Die Schule auf dem Zauberberg

Zum Vergrößern klicken

Vom Bericht über ein exklusives Schweizer Internat entwickelt sich der Film zur persönlichen Geschichte eines Schülers, der zum Sympathieträger wird: Berk kommt aus einer schwerreichen Familie in Istanbul. Die „Leysin American School“ ist seine letzte Chance auf ein Abitur.
Wie Berk die Geduld seiner Lehrkräfte und Mentoren strapaziert, zeigt Radek Wegrzyn ebenso wie den Alltag an der Eliteschule. Dabei erweist sich, dass die reichen Kids dieselben Probleme haben wie alle anderen, aber dank ihres Status vielleicht bessere Lösungsmöglichkeiten. Promitratsch wird man hier vergeblich suchen, ebenso jede Form von Internatsromantik. Als Gesprächsgrundlage über Erziehung und individuelle Förderung ist der kleine Film hingegen gut geeignet.

Webseite: www.farbfilm-verleih.de

Dokumentarfilm (OmU)
Deutschland 2018
Regie: Radek Wegrzyn
Kamera: Johannes Louis, Matthias Bolliger, Timon Schäppi, Ferhat Topraklar
Musik: Octavia Gloggengießer
87 Minuten
Verleih: farbfilm verleih
Kinostart: 28. Februar 2019

FILMKRITIK:

Von Weitem erinnert die „LAS“, die „Leysin American School“, im Schweizer Kanton Waadt an die Davoser Lungenheilstätte auf der Schatzalp, wo Thomas Manns Roman „Der Zauberberg“ angesiedelt ist. Schnell stellt sich heraus, dass dafür wohl eher die Schweizer Bergarchitektur verantwortlich ist als die Nähe zur Weltliteratur. Dass dies hier ebenfalls ein Zauberberg sein könnte, ergibt sich im Verlauf der Geschichte, die sich von einer informativen Schulbeschreibung zur persönlichen Story eines Schülers entwickelt: Berk ist der verwöhnte Sprössling einer steinreichen Familie aus Istanbul. Er war offenbar schon vorher auf der LAS und kehrt nun zurück, um in einem letzten Anlauf vielleicht doch noch das Abitur zu schaffen. Der Druck seines übermächtigen Vaters und dessen Drohung, die Geldquellen versiegen zu lassen, haben Berk wieder in die Schweiz gebracht. Doch Berk möchte lieber in Istanbul bei seinen Freunden bleiben, vielleicht dort eine Bar eröffnen und weiter das Leben genießen, als hier in der Kälte auf dem Berg zu hocken und zu pauken. Dass Berk schwere Disziplinprobleme hat, ist ebenso unübersehbar wie seine generelle Lustlosigkeit. Doch auf der „LAS“ lässt man sich nicht so leicht von spätpubertären Teenies beeindrucken.

Ein großes Plus des Films ist, dass er sich – ebenso wie Berk – entwickelt. Nur zu Beginn, wenn die Schule vorgestellt wird, bleibt das Publikum in der Zuschauerrolle. Sobald Berk auftaucht, konzentriert sich der Film auf ihn als Hauptperson, gewinnt dadurch an Tempo und inhaltlichem Drive. Er wird zur Identifikationsfigur, und zwar vielleicht gerade deshalb, weil er anfangs nicht besonders sympathisch wirkt. Zu Beginn ist er wie ein zu groß geratenes Kind: launisch, gelangweilt und oft genervt. Seine Entwicklung zum positiven Helden läuft parallel zu intensiven Blicken hinter die Kulissen der Schule. Man lernt diesen Jungen verstehen, der dem familiären Druck nicht standhalten kann und will, der – wie so viele seines Alters – auf der Suche ist nach einer eigenen Persönlichkeit und nach einem sinnvollen Leben. Radek Wegrzyn zeigt die Gegensätze: Da ist der reiche Junge zu Hause in Istanbul, wo er im Luxusleben schwelgt, auf dem Motorboot übers Meer jagt und mit Freunden feiert. In der Schweiz ist er nur einer von vielen, die genauso reich und verwöhnt sind wie er, allerdings fleißiger, erfolgreicher und, man muss es leider sagen, auch verantwortungsbewusster.

Interviews mit Schülern und Lehrkräften gehören ebenso zum Film wie sportliche oder kulturelle Events, für Internatsromantik ist kein Platz. Prominenz ist hier kein Thema, allerdings spielt das Thema Sicherheit eine große Rolle – die Sequenzen dazu gehören mit zum Witzigsten an diesem Film, auch wenn die Komik hier eher unfreiwillig ist. Wer nicht im Bild zu sehen sein wollte, wird mit einer Pandamaske unkenntlich gemacht, was besonders den Gruppenbildern hier und da einen skurrilen Charme verleiht. Die gesamte Schule scheint eine Art Effizienzmaschine zu sein, was auch die Lehrerpersönlichkeiten einschließt, die nach außen eine wohl auch verinnerlichte Gemeinsamkeit demonstrieren. Anfangs entsteht der Eindruck, als ginge es um die Erschaffung stromlinienförmiger Erfolgsmenschen. Doch das ist zu oberflächlich gedacht. Für die individuelle Entwicklung des Einzelnen ist viel Raum in dieser hochmodernen Schule, auch wenn ein Rädchen ins andere greift und der Lehrkörper von professioneller Freundlichkeit geprägt ist. Die Erziehung zur Übernahme gesellschaftlicher und politischer Verpflichtungen ist für diese luxusverwöhnten Kinder selbstverständlich und wird von allen akzeptiert. Außer Berk haben die meisten Schüler allerdings wenig Möglichkeiten, von sich selbst zu sprechen.

Am Ende bleibt neben der Sympathie für Berk und den Weg, zu dem er sich entschließt, ein ketzerischer Gedanke: Was wäre wohl aus dem Schlingel Berk geworden, wenn er – nur mal angenommen – in einer so genannten „bildungsfernen“ Familie im Ruhrpott aufgewachsen wäre? Und wieviel Potenzial geht hierzulande dadurch verloren, dass es kaum individuelle Fördermöglichkeiten gibt, die für Berk und seine Mitschüler auf dem Zauberberg selbstverständlich sind? Und schließlich: Wohin geht eine Gesellschaft, in der Chancengleichheit nur für eine exklusive Oberschicht existiert?

Gaby Sikorski