Die Stadt als Beute

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Berlin gilt als neuer „place to be“, der London bereits hinter sich gelassen hat. Hier wollen viele leben. Mit der Folge, dass zahlungswillige Investoren einkommensschwache Mieter an die Außenbezirke verdrängen. In seiner erhellenden Langzeitdoku „Die Stadt als Beute“ beschreibt Regisseur Andreas Wilcke die rasante Entwicklung auf dem Berliner Immobilienmarkt in den letzten Jahren. Ohne Off-Kommentierung und ohne ein abschließendes Urteil macht er – im Zeitraffermodus quasi – diesen erstaunlichen Wandel in Berlin für den Zuschauer greif- und erfahrbar.

Webseite: www.diestadtalsbeute.com

Deutschland 2016

Regie: Andreas Wilcke

Drehbuch: Andreas Wilcke

Länge: 82 Minuten

Verleih: Wilcke Films / Weltfilm

Kinostart: 25. August 2016

FILMKRITIK:

Berlin gilt als neuer Mittelpunkt der westlichen Welt. Sogar von den Megametropolen London und New York aus, zieht es die Menschen an die Spree. Das Problem ist, dass immer mehr Menschen hier leben wollen, zumal Wohnungen im Vergleich zu anderen europäischen Metropolen in Berlin (noch) unschlagbar günstig sind. Die Konsequenz daraus: ehemals staatliche Immobilien und Wohnungen werden privatisiert: Miet- werden zu Eigentumswohnungen, die sich nur noch die Reichen leisten können. Doch bevor die Immobilien veräußert werden können, müssen erst einmal die Mieter raus. Ein in den letzten Jahren stetig zunehmender Kreislauf kommt in Gang. Der Kampf um den attraktivsten Wohnungsmarkt Europas geht weiter. Viele Jahre begleitete Regisseur Andreas Wilcke diese Vorgänge in der deutschen Hauptstadt und fing eine Stadt im Umbruch ein.

Die Dokumentation „Die Stadt als Beute“ ist ein echtes Langzeitprojekt von Regisseur Andreas Wilcke. Rund vier Jahre lang begleitete er alle beteiligten Akteure bei ihrem Bewerben, Bieten und Buhlen um den begehrten Wohnraum: Makler, Kaufinteressenten, Investoren, Mieter, Eigentümer. Wilcke begab er sich in unzählige Ecken und Winkel sowie in viele Bezirke der Stadt, um den Wandel auf dem Berliner Immobilienmarkt mit der Kamera einzufangen. „Die Stadt als Beute“ feierte 2016 auf dem Max-Ophüls-Festival seine Premiere.

Der Regisseur präsentiert in seinem Film sachlich und objektiv diese jüngsten Entwicklungen. Er stellt sich dabei nicht auf die Seite einer Interessensgruppe, sondern lässt alle Beteiligten ausgiebig Teil seines Films werden. Wobei er mit seiner Kamera zumeist nur stiller Beobachter ist und alles geschehen, alles seinen Gang gehen lässt, ohne aktiv in die Vorgänge einzugreifen.

So ist er z.B. dabei, wenn sich ein alteingesessener Berliner Makler (eine echte Berliner „Schnauze“ noch dazu) mit ausländischen Interessenten in einem Café über die Vorzüge der Stadt unterhält. Berlin sei mittlerweile das, was London 1968/69 war, meint der Makler. Der Interessent – ein wohlhabender, junger Mann, der sich eine Eigentumswohnung kaufen will – stimmt ihm zu. Später, auf dem Weg zur Besichtigung, ist der Mann sichtlich angetan von der andauernden Bewegung und der Atmosphäre in der Stadt. „Ich kann mir sehr gut vorstellen, wie man hier als junger Mensch Abends in dieser Bar ein Bier trinkt und einfach nur Spaß hat“, meint er. Die Antwort des Maklers: „Das würde ich auch tun, wäre ich 40 Jahre jünger.“ Lautes Gelächter.

Diese unverstellten, persönlichen Gespräche und Abläufe solcher Besichtigungen und Unterredungen sind es, die einen großen Reiz ausmachen. Es ist ein intimer Blick hinter die Kulissen des heiß umkämpften Marktes, in dem schnell eins klar: Geld spielt für die Interessanten keine Rolle – zum Leidwesen der langjährigen Mieter und sozial schwachen Bewohner, denen nicht mehr viel bleibt, als sich langfristig an die Ränder der Stadt drängen zu lassen. Dies wird nochmals besonders in einer Szene deutlich, die ebenfalls einen Kaufinteressenten zeigt, diesmal bei einer Immobilienmesse. Er geht von Stand zu Stand, benennt klar seine Wünsche („Altbau oder Loft“) und äußert dann nur kurz im Vorbeigehen, ganz beiläufig: „Geld spielt keine Rolle“.

Geld spielt sehr wohl eine Rolle für die leidtragenden Mieter. Wilcke spricht auch mit ihnen, begleitete sie bei Behördengängen, zeigt Szenen von protestierenden Bewohnern oder auch Bürger bei Fragestunden mit dem damaligen Regierenden Bürgermeister Wowereit. Dazwischen montiert er Sequenzen von Bauarbeiten, Sanierungen und eines gewaltig gegen die Wände eines Altbaus ratternden Vorschlaghammers. Dies alles macht klar: Berlin ist im Umbruch, scheinbar überall, jederzeit. In einigen Jahren – so prognostizieren Experten – wird Berlin nicht wiederzuerkennen sein. Dies ist auch die Ansicht einer  im Film auftretenden Millionenerbin, die auch in der Stadt investieren will, für die Berlin bald in altem Glanz erstrahle, mehr noch: quasi die neue Hauptstadt der westlichen Welt werde.
„Die Stadt als Beute“ lässt all dies unkommentiert, der Zuschauer muss sich seine eigene Meinung bilden. Als neutrales, hochinformatives Abbild der aktuellen Immobilienmarktsituation funktioniert der Film ganz ausgezeichnet.

Björn Schneider