Die Taschendiebin

Zum Vergrößern klicken

Park Chan-wooks neuester Film ist die Adaption eines britischen Romans, den er ins Korea der 30er Jahre verlegt und als erotischen Thriller voller überraschender Wendungen präsentiert: Das Waisenmädchen Sookee wird als Zofe ins Haus der reichen Erbin Lady Hideko geschickt. Dort soll sie dafür sorgen, dass Hideko sich in den Richtigen verliebt, in den Grafen, der in Wahrheit Sookees Komplize und ein Heiratsschwindler ist. Doch Sookee verliebt sich in Hideko. Wenn sein Film über Liebe, Macht und Betrug nicht ganz komplett überzeugt, dann liegt das vielleicht am Perfektionismus, mit dem Park Chan-wook Optik und Dramaturgie über Emotionen stellt. Nach „Oldboy“ und „Stoker“ ist ihm jedoch wieder ein visuell berauschendes Kinoerlebnis gelungen, das – bis auf einige irritierende Gewaltszenen – wunderbar ästhetische Bilder von magischer Anziehungskraft bietet.

Webseite: www.diefilmagentinnen.de

OT: Ah-ga-ssi
Südkorea 2016
Regie: Park Chan-wook
Drehbuch: Park Chan-wook, Chung Seo-kyung (nach dem Roman „Fingersmith“ von Sarah Waters, deutscher Titel: „Solange du lügst“)
Bildgestaltung: Chung-hoon Chung                                                
Originalmusik: Yeong-wook Jo
Darsteller: Kim Min-hee, Kim Tae-ri, Ha Jung-woo, Cho Jin-woong, Kim Hae-sook, Moon So-ri
145 Minuten
Verleih: Koch Films
Kinostart: 5. Januar 2017

FILMKRITIK:

Sookee (Kim Tae-ri) ist schön wie ein Bild, ein zartes Mädchen mit unschuldigen Rehaugen. Doch der erste Anschein ist trügerisch, denn Sookee ist eine ausgebildete Taschendiebin und zu allem bereit. So wird sie zur Helfershelferin bei einem teuflischen Plan: Sie soll als Kammerzofe in der Villa des exzentrischen Millionärs Kouzouki (Jo Jin-woong) das Vertrauen seiner Nichte Hideko (Kim Min-hee) erschleichen und alles dafür tun, dass Hideko sich in den Heiratsschwindler Fujiwara (Ha Jung-woo) verliebt. Nach der Hochzeit soll Hideko unter einem Vorwand für wahnsinnig erklärt werden und in der Psychiatrie verschwinden. Als Belohnung winkt Sookee Hidekos gesamter Schmuck. Doch dann verliebt sich Sookee in Hideko, und aus dem Plan entwickelt sich ein gefährliches Intrigenspiel, in dem es schließlich um Leben oder Tod geht.
 
Park Chan-wook verwebt aufs Kunstvollste die Romanvorlage, die im England des ausgehenden 19. Jahrhunderts spielt, zu einem wundersamen, feinen Gespinst aus hypnotischen Bildern, die er in die Zeit der japanischen Besetzung Koreas in den 30er Jahren versetzt. Seine Geschichte besteht aus drei scharf voneinander abgegrenzten Teilen: Der erste Teil wird aus Sookees Blickwinkel erzählt. Im zweiten Teil steht Hideko im Vordergrund, im dritten ist es Fujiwara. Diese Form ist nicht ganz neu (siehe „Rashomon“), aber immer wieder eine Herausforderung. Die Struktur wird zur Grundlage für eine Dramaturgie, die mit unterschiedlichen Erzählperspektiven spielt und sowohl die Sichtweise der Personen als auch des Publikums immer wieder in Frage stellt. Das passt natürlich hervorragend zu einer Story, die zahllose überraschende Wendungen bietet und von Täuschung und Betrug handelt, von betrogenen Betrügern und vom ungleichen Kampf der reinen Unschuld gegen das Böse.
 
Eine Geschichte, die aus verschiedenen Blickwinkeln weitererzählt wird, muss automatisch Überschneidungen und Wiederholungen enthalten. Park Chan-wook entwickelt für diese Szenen einen ausgefuchsten, manchmal ironischen Humor, der sehr entlastend wirkt. Denn ansonsten liegt über dem Film meist eine melancholische Stimmung, geprägt vom Schicksal der beiden Mädchen Hideko und Sookee. Die beiden Darstellerinnen verkörpern ihre Rollen ideal: Kim Tae-ri macht aus Sookee ein wissbegieriges kleines Luder, eher bauernschlau als intelligent, opportunistisch und sehr schweigsam. Die ideale Komplizin für den aalglatten Grafen, den Ha Jung-Woo als aalglatten, gewissenlosen Verführer anlegt. Jo Jin-woong macht aus dem Onkel einen glücklicherweise meist nicht offenkundigen Sadisten, der von Qualen eher spricht, als dass er sie auslebt. Allerdings nicht durchgängig – empfindsame Kinogäste sollten sich auf einen sehr intensiven Schluss vorbereiten. Am meisten beeindruckt Kim Min-hee als Hideko. Obwohl schon Mitte 30, wirkt sie wie ein junges Mädchen; ihre Unschuld ist ebenso überzeugend, wie das Wissen um die grausamen Taten des Onkels, das wie ein Nebel aus Trauer und Resignation über ihren schönen Augen liegt.
 
Hideko wurde schon als kleines Mädchen dafür ausgebildet, wie ihre Tante im Dienst ihres perversen Onkels einem männlichen Publikum pornographische Geschichten vorzulesen. Nachdem sich die Tante erhängt hatte, übernahm Hideko ihre Aufgabe. Die neugierige Sookee findet einen Strick in ihrem Kleiderschrank. Offenbar ist Selbstmord der einzige Weg, um dem Onkel und dem geheimnisvollen Haus zu entkommen. Und im Grunde spielt dieses Haus, zur Hälfte im japanischen Stil, zur Hälfte im britischen Stil gebaut und eingerichtet, die dritte Hauptrolle nach den beiden Mädchen. Es ist angefüllt mit Geheimnissen, unzählige Türen müssen aufgeschoben, geöffnet, vorsichtig geschlossen oder zugeknallt werden, um von einem überraschenden Raum in den nächsten zu gelangen, ohne dass alles jemals sichtbar würde, was darin steckt. Wie ein menschliches Gehirn enthält es geheime Winkel und grässliche Mysterien und bietet durch seine offenkundige Symbolik eine Vielzahl von Interpretationsmöglichkeiten. Sookee, die überall herumschnüffelt, um ihre Aufgabe zu erfüllen, entdeckt dann auch so einiges, was ihr zu schaffen macht. Sie findet die Bibliothek, in der Onkel und Nichte nur scheinbar friedlich lesen, sie wird Zeugin einer der Lesungen vor einem männlichen Publikum, das fürs Zuhören viel Geld bezahlt. Aber vor allem entdeckt sie, dass sie Hideko liebt. Anfangs sieht es eher so aus, als ob sie Hideko auf spielerische Weise auftragsgemäß an Sex heranführen will, doch bald wird klar, dass diese beiden grazilen Geschöpfe magisch voneinander angezogen werden. Park Chan-wook zeigt ihre Liebesszenen recht ausführlich und in selten gesehener ästhetischer Vollkommenheit. Nur gelegentlich vergreift er sich in seinen Mitteln: So postiert er die Kamera zwischen Hidekos Beinen, um das sich nähernde Gesicht der Partnerin zu zeigen. Das ist dann zwar ein sehr schönes, hingebungsvolles Gesicht, aber eine Kameraeinstellung aus Sicht einer Vagina ist doch irgendwie merkwürdig. Eindeutig ist jedoch, dass die beiden Mädchen in der Liebe zueinander nicht nur Erfüllung finden, sondern auch Befreiung. Sie verfügen kaum über Möglichkeiten, sich gegen die Männer aufzulehnen, die sie unterdrücken. Wenn Sookee und Hideko gemeinsam die pornographische Bibliothek des perversen Onkels zerstören, dann ist das ein wunderbarer Akt der Befreiung. Tatsächlich aber sind auch sie gezwungen, einander zu belügen und zu betrügen. Ob es für sie einen Weg aus dem Dickicht von Geheimnissen, Täuschungen, Verrat und Untreue gibt?
 
Gaby Sikorski