Die Theorie von Allem

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„Die Theorie von allem“ feierte seine Weltpremiere im offiziellen Wettbewerb der 80. Internationalen Filmfestspiele Venedig und ist im Rennen um den Goldenen Löwen. Timm Krögers stimmungsvoller Noir-Film mit starker, intelligenter Sci-Fi-Komponente ist deutsches Kino, wie man es selten sieht. Man könnte den Film um einen Physiker, der an einer bahnbrechenden Theorie arbeitet, als Anti-These zu „Everything Everywhere All at Once“ sehen. Starkes Arthaus-Kino mit sich kontinuierlich steigernder Spannung.

Webseite: https://www.neuevisionen.de/de/filme/die-theorie-von-allem-137/filminfo

Deutschland / Österreich / Schweiz 2023
Regie: Timm Kröger
Buch: Roderick Warich, Tim Kröger
Darsteller: Jan Bülow, Olivia Ross, Hanns Zischler, Gottfried Breitfuß

Länge: 118 Minuten
Verleih: Neue Visionen
Kinostart: 26. Oktober 2023

FILMKRITIK:

Im Jahr 1962 reist Joannes Leinert mit seinem Doktorvater Stratten zu einem Kongress in den Schweizer Alpen. Der angekündigte Redner, der zur Quantenmechanik Bahnbrechendes zu sagen hat, taucht nicht auf. Also verbringen die Gäste die Zeit mit Dinnerpartys. Es gesellt sich auch Professor Blumberg dazu, den Stratten auf den Tod nicht ausstehen kann, der aber für Leinerts Theorie, die das Zentrum seiner Doktorarbeit darstellt, weit mehr anfangen kann. Es geht um die Frage nach der Existenz paralleler Realitäten. Dann stirbt einer der Gäste und die Ermittler vermuten einen Mord, während Leinert auf eine Pianistin trifft, die mehr über ihn weiß, als sie dürfte. Als er nach ihr sucht, stößt er auf ein Ereignis von ungeahnten Ausmaßen – die Spur führt ihn tief unter den Berg.

Der Film beginnt 1974 – mit einer für die damalige Zeit typischen Talk-Show, in der über das Buch gesprochen wird, das Johannes Leinert geschrieben hat. „Die Theorie von allem“, ein Science-Fiction-Roman, der eine wahre Geschichte erzählt. Aber der Promotion-Auftritt verläuft nicht so, wie sich Leinert das vorgestellt. Wie kaum etwas so verläuft, wie er es sich vorgestellt hat. Dann springt der Film zurück ins Jahr 1962 – und wird schwarzweiß. Die Kameraarbeit von Roland Stuprich ist eindrucksvoll. Er erschafft eine Atmosphäre, die Farbe gar nicht hinbekommen würde. Mehr noch: Er findet Bilder, die anmuten, als wären sie aus dem Jahr 1962.

Ko-Autor und Regisseur Timm Kröger hat das Kino der damaligen Zeit offenbar genau studiert. Er erzählt „Die Theorie von allem“ wie ein klassischer Thriller jener Dekade. Untermalt wird das noch von der Musiv von Diego Ramos, der Anleihen bei Bernard Hermann nimmt. Der Film hat ein Hitchcockeskes Flair, arbeitet aber nicht nach dessen Philosophie der Erzeugung von Suspense. Der Zuschauer ist hier nie klüger, als die Hauptfigur. Mit ihr zusammen erkundet das Publikum das Mysterium dieser Geschichte.

Dass es um das Multiversum und um die Existenz paralleler Welten geht, ist schnell klar. Der Film verpackt das in einem wissenschaftlichen Unterbau, der zeigt, dass die Autoren sich damit auseinandergesetzt haben. In ihrer weiteren Entwicklung wird die Geschichte immer mysteriöser, aber auch immer faszinierender, weil die Realitäten miteinander kollidieren, aber das auf eine subtile Art und Weise. Genau das macht „Die Theorie von allem“ zu so etwas wie die deutsche Antwort auf „Everything Everywhere All at Once“, aber eben nicht als Actionfilm, sondern als den Intellekt anregender Diskurs über das Wesen der Realität. Das ist aber nie verkopft oder langsam oder zäh, sondern stets aufs Neue anregend, und das jedes Mal mehr, wenn das Mysterium wie eine Zwiebel Schicht um Schicht entblättert wird.

Der Haupthandlung lässt Kröger einen Epilog folgen, der die weiteren Jahre von Johannes Leinert in den Fokus rückt, mit der Metaebene der eigenen filmischen Existenz arbeitet und einen Schlusspunkt findet, der noch lange nachwirkt. Kurz gesagt: „Die Theorie von allem“ ist ein großer, eindrucksvoller, faszinierender Science-Fiction-Noir-Thriller, der die Intelligenz des Zuschauers nicht beleidigt, sondern sie im Gegenteil herausfordert.

 

Peter Osteried