Die unendliche Erinnerung

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Vom kleinen zum großen, vom persönlichen zum gesellschaftlichen. In ihrer in Sundance ausgezeichneten Dokumentation „Die unendliche Erinnerung“ schlägt die chilenische Regisseurin Maite Alberdi einen Bogen von der Alzheimer-Erkrankung des in seiner Heimat sehr bekannten Journalisten Augusto Góngora und der chilenischen Gesellschaft, die immer noch mit der Erinnerung an die Diktatur ringt. Ein intimes Porträt und ein berührender Liebesfilm.

La memoria infinita
Chile 2022
Regie & Buch: Maite Alberdi
Dokumentarfilm

Länge: 85 Minuten
Verleih: Piffl
Kinostart: 28. Dezember 2023

FILMKRITIK:

2014 wurde bei dem damals 62jährigen Augusto Góngora Alzheimer diagnostiziert, zwei Jahre später heiraten er und seine 17 Jahre jüngere Partnerin Paulina Urrutia. Ungefähr zu diesem Zeitpunkt begann Urrutia ihren Mann zu filmen, Momente einzufangen, Erinnerungen festzuhalten, auch damit Góngora auf dem langsamen Weg der Krankheit Bilder von sich und seiner Frau sehen kann.

Einige Jahre später kam die chilenische Filmemacherin Maite Alberdi dazu, die Bilder werden professioneller, das Paar wird nun von einer dritten Person begleitet und beobachtet, zumindest vorübergehend. Denn mit Beginn der Corona-Pandemie kann Alberdi nicht mehr selber filmen, erneut übernimmt nun Urrutia die Kamera, werden die Bilder verwaschener, wirken nun wieder mehr wie verwackelte Heimvideoaufnahmen.

Warum nun dieses Paar, warum eine Beobachtung dieses Mannes, der wie so viele an Alzheimer erkrankt und das Glück hat, liebevoll gepflegt zu werden? In ihrer chilenischen Heimat sind Góngora und Urrutia bekannte Gesichter, sie war jahrelang Schauspielerin und agierte zwischen 2006 und 2010 als Ministerin des Nationalen Rates für Kultur und Künste, er war Journalist und Buchautor, der gerade während der langen Jahre der Diktatur stets versuchte, die Verbrechen des Pinochet-Regimes aufzuzeigen. Später veröffentlichte Góngora zusammen mit Kollegen einen Sammelband mit dem Titel „Chile. La memoria prohibida“ in etwa: Chile, die verbotene Erinnerung.

Ein Journalist also, der sich Zeit seines Lebens gegen das Vergessen gestellt hat, versuchte, die Erinnerung an die Verbrechen der Diktatur aufrecht zu halten, der nun selbst zunehmend das Gedächtnis verliert, dessen Erinnerung an sich, sein Leben, seine Frau, ja selbst sein eigenes Abbild auf dem Hochzeitsfoto verblasst. In dieser allegorischen Gegenüberstellung ähnelt „Die unendliche Erinnerung“ den Essayfilmen des chilenischen Regisseurs Patricio Guzmáns, vor allem seinem Meisterwerk „Nostalgie des Lichts.“ Doch während Guzman in kosmische Gefilde entschwand, einen auch stilistisch markanten Film drehte, lässt Alberdi die Parallele, die Metapher nur lose im Raum schweben, ohne sie allzu sehr zu betonen, ohne sie mit forcierter Relevanz aufzuladen.

Bei ihr stehen die Menschen im Mittelpunkt, die Tragik eines Intellektuellen, der mit tausenden Büchern zusammenlebt, die er nicht mehr lesen kann, vor allem aber eine große Liebe, die auch der Alzheimer-Krankheit trotzt. Sehr intime Szenen sind dabei entstanden, die bisweilen an die Grenze zum Voyeurismus gehen. Meistens gelingt es Alberdi jedoch, eine Balance zwischen Nähe und Distanz zu finden, zeigt sie ohne viele Worte eine große Liebe, die weder durch Alzheimer noch durch Corona zerstört wurde.

Einige Monate nach der Weltpremiere von „Die unendliche Erinnerung“ im Januar diesen Jahres, verstarb Augusto Góngora schließlich im Alter von 71 Jahren.

 

Michael Meyns