Die Verlorenen

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Mit seinen bisherigen Filmen hat sich der polnische Regisseur Tomasz Wasilewski einen Namen als stilistisch beeindruckender Filmemacher gemacht, der nicht vor transgressiven Geschichten zurückschreckt. In seinem neuen Film „Die Verlorenen“ greift er nun ein besonders extremes Tabuthema auf, das er erst im letzten Moment seines erneut stilistisch starken, inhaltlich etwas zu bemühten Films enthüllt.

Glupcy
Polen 2022
Regie & Buch: Tomasz Wasilewski
Darsteller: Dorota Kolak, Lukasz Simlat, Tomasz Tyndyk, Katarzyna Herman, Marta Nieradkiewicz, Alina Seban

Länge: 106 Minuten
Verleih: eksystent filmverleih
Kinostart: 7. September 2023

FILMKRITIK:

Irgendwo an der polnischen Küste lebt Marlena (Dorota Kolak), eine Ärztin Anfang 60, zusammen mit dem deutlich jüngeren Tomasz (Lukasz Simlat). Wirklich harmonisch wirkt die Beziehung nicht mehr, doch erst mit dem Einzug von Marlenas schwerkrankem Sohn Mikolaj (Lukasz Simlat) beginnt die Situation zu eskalieren.

Was genau dazu geführt hat, dass Mikolaj querschnittsgelähmt vor sich hin vegetiert bleibt  offen, ebenso warum Tomasz sich so dagegen sträubt, dass sich Marlena ihres Sohnes annimmt, ihn pflegt, wäscht und füttert, so als wäre er ein Baby, als wäre er ein Neugeborenes. Wie ein neugeborenes Kind, das sich in die Beziehung der Eltern einmischt wirkt Mikolaj, ein seltsames, schwer zu durchschauendes Trio entsteht, dessen dunkle Geheimnisse sich erst zum Ende enthüllen.

In einer betont künstlichen Welt lässt Tomasz Wasilewski seinen vierten Spielfilm „Die Verlorenen“ spielen, der Kreißsaal, in dem Marlena Kinder auf die Welt holt, ist etwa von breiten Fenstern gesäumt, die jedoch nicht den Blick in eine „normale“ Welt freigeben, sondern auf aufgetürmte Sandberge, die das Innere einzugraben scheinen. Auch die Wohnung, die Marlene und Tomasz teilen wirkt fremd und kalt, auf bevölkerten Straßen spielt keine Szene, mehr oder weniger natürlich wirken allein Szenen, in denen Marlena verloren in der Brandung des Meeres steht, unentschlossen, ob sie Schwimmen soll oder nicht.

Eine Stilisierung, die zu einem Erzählkonstrukt passt, das seine Rätsel lange, vielleicht zu lange für sich behält, das betont künstlich wirkt, aber in seiner Rätselhaftigkeit nur bedingt Mehrwert erzeugt. Das etwas in der Familie nicht stimmt ist schnell klar, das zwischen Marlena und  ihren Kindern etwas vorgefallen ist, muss man nicht ahnen, es wird überdeutlich angedeutet. Das sich Tomasz Wasilewski jedoch dazu entschieden hat, bis zum letzten Moment seines Films zu warten, um den transgressiven, betont tabubrechenden Moment zu offenbaren, um den sein Film kreist, lässt „Die Verlorenen“ allzu konstruiert und gewollt erschienen.

„Es war keine bewusste Entscheidung meinerseits, mich einem solch kontroversen Thema zu widmen.“ behautet der Regisseur, was angesichts der stets an die Grenzen gehenden früheren Filme wie United States of Love“ oder „In a Bedroom“ etwas unglaubwürdig wirkt. Gerade weil die Enthüllung des Geheimnisses erst ganz am Ende steht, der Zuschauer daher bis zum letzten Moment nur ahnt, was das Verhältnis zwischen Marlena und Tomasz ausmacht, wirkt die Transgression am Ende wie ein Gimmick.

So eindrucksvoll Wasilewskis Filme stilistisch auch sind (wofür nicht zuletzt die wie immer schwerelosen Kamerafahrten des großartigen rumänischen Kameramanns Oleg Mutus sorgen), inhaltlich wirken seine Filme oft zu gewollt, um als die psychologischen Dramen zu überzeugen, die sie augenscheinlich sein wollen.

 

Michael Meyns