Die Vision der Claudia Andujar

Der differenzierte, nachhaltige Dokumentarfilm „Die Vision der Claudia Andujar“ beleuchtet das Leben der Humanistin, Aktivistin und gefeierten Foto-Künstlerin Claudia Andujar. Eine Frau, die mit ihrer Arbeit die Vernichtung des Yanomami-Lebensraums im brasilianischen Amazonasgebiet ab den 70er-Jahren öffentlich machte. Ein indigenes Volk, dem der Film besondere Aufmerksamkeit widmet – weil er in gleicher Weise eine junge, neue Yanomami-Generation bei ihrem politischen Kampf und Engagement begleitet.

Deutschland, Schweiz 2024
Regie: Heidi Specogna
Buch: Heidi Specogna
Länge: 88 Minuten
Verleih: W-Film
Kinostart: 09. Mai 2024

FILMKRITIK:

Geboren 1931, überlebte Andujar die Judenverfolgung durch ihre Flucht in die Schweiz. In den 1950er-Jahren wurde Südamerika zu ihrer Heimat. Dort lernte sie schließlich das Yanomami-Volk im brasilianischen Amazonas kennen – und begleitete es ab den 70er-Jahren auch fotografisch. Immer mehr entwickelte sich Andujar zu einer Natur- und nicht zuletzt politischen Fotografin, die den Lebensalltag des indigenen Stammes festhielt.
Die Porträtierte erweist sich in dieser Dokumentation und eingehenden Betrachtung ihres Lebens als auskunftsfreudige, ungemein sympathische und zugängliche Person. Andujar ist heute 92 Jahre alt und gewährt Regisseurin Specogna offen und frei heraus Einblicke in all ihre Lebensstationen. Dazu zählen die prägenden Kindheitserinnerungen. Die Positiven, wie die Zeit in Transsilvanien als junges Mädchen, ebenso wie die Negativen. Darunter die vom Nationalsozialismus überschatteten, traumatischen Vorkommnisse (der Vater und viele Verwandte väterlicherseits kamen im KZ Dachau um).
Was folgten, waren Zeiten häufiger Wohnortwechsel und des unsteten Lebens. Auf einen kurzen Aufenthalt in der Schweiz folgte die Flucht zum Onkel in die USA und anschließend die Weiterreise nach Brasilien. Andujar beeindruckt bei ihren Erzählungen nicht nur mit ihrem beachtlichen Erinnerungsvermögen – auch ihre klugen Ergänzungen und von intelligentem Witz durchzogenen Bemerkungen sind ein Gewinn für den Film. Ein ums andere Mal bezieht sich gar die Regisseurin unmittelbar mit ins Geschehen ein, indem sie ihr eine Frage gestellt.
„Die Vision der Claudia Andujar“ zeigt an sinnhaften, gut gewählten Stellen viele der fotografischen Arbeiten Andujars. Im Zentrum stehen die Bilder der Yanomami und des Regenwaldgebietes. Seit jeher habe sie der Blick und der Ausdruck in den Gesichtern der Menschen interessiert, sagt sie. Und genau das sieht man ihren mal poetischen, mal sachlichen, aber immer authentischen Fotografien an. Zu ihnen gehören die Bilder eines sich immer weiter reduzierenden Lebensraums und toxischer äußerer Einflüsse. So hielt Andujar in den frühen 70er-Jahren unter anderem den Bau der von der damaligen Militärregierung in Auftrag gegebenen, großen Bundesstraße fest. Sie führte direkt durch das Yanomami-Gebiet und beeinträchtigte das Leben der Ureinwohner massiv.
Im zweiten Drittel entscheidet sich Specogna für einen klugen Schachzug. Unvermittelt richtet sie ihre Aufmerksamkeit auf eine junge Yanomami-Generation, weg von Andujar und der Vergangenheit. Diese jungen, kämpferischen Indigenen führen ihren ganz eigenen Kampf um den Erhalt ihrer Heimat. Und sie führen ihn mit modernen Mitteln (mit hochwertigen Kameras), neuen Medien und in der Online-Welt. Specogna beobachtet sie dabei, wie sie die Ausbeutung und Zerstörung der Natur mit ihren Smartphones und Handycams für ihren eigenen Film festhalten. Und damit gleichzeitig auf die Folgen von Abholzung und die Vergiftung der Flüsse mit Quecksilber durch Goldgräber verweisen.

Björn Schneider