Die zärtliche Revolution

Der vom Hals abwärts gelähmte Aktivist Samuel, einer der Protagonisten von Annelie Boros‘ Dokumentarfilm „Die zärtliche Revolution“ streitet ab, dass der Unfall, durch den er in den Rollstuhl gezwungen wurde, der Grund für seine Behinderung ist. „Es ist die Gesellschaft, die mich behindert.“ Damit bringt er diesen anrührenden Film auf den Punkt: Es geht um Menschen, die mit selbstloser, überhaupt nicht bis schlecht bezahlter Care-Arbeit ein Pflegesystem aufrechterhalten, in dem gern von Inklusion gesprochen wird. Doch in Wirklichkeit werden Menschen mit Einschränkungen in diesem System von der gesellschaftlichen Teilhabe ausgeschlossen.

 

Über den Film

Originaltitel

Die zärtliche Revolution

Deutscher Titel

Die zärtliche Revolution

Produktionsland

DEU

Filmdauer

94 min

Produktionsjahr

2024

Regisseur

Boros, Annelie

Verleih

W-FILM Distribution

Starttermin

14.08.2025

 

Annelie Boros lässt in ihrem Dokumentarfilm Menschen zu Wort kommen, denen sonst, wenn überhaupt, nur widerwillig zugehört wird. Da ist die polnische Pflegerin Bozena, die hier in Deutschland ihre Patienten rund um die Uhr betreut und dafür in Kauf genommen hat, dass es in ihrem eigenen Leben zu fundamentalen Änderungen gekommen ist. Jetzt unterstützt Bozena andere Betroffene in ihrem Kampf um ein menschenwürdigeres Pflegen für Patienten und Pflegende. Wir lernen den mit einem herrlich losen Mundwerk gesegneten Hamburger Arnold kennen, der sich 24 Stunden am Tag um seinen behinderten Sohn Nico kümmert. Trotzdem findet Arnold auch noch die Zeit, sich für die dringend notwendige Verbesserung der Situation pflegender Angehöriger einzusetzen. Die Klimaaktivistin Amanda erzählt uns davon, wie der Klimawandel den Lebensraum ihrer Familie in Peru zerstört, und erklärt, warum es einen Zusammenhang zwischen einer gesunden Erde und gesunden Menschen gibt. Und da ist natürlich noch der eingangs erwähnte Rollstuhlfahrer Samuel, der auf vieles in seinem ohnehin schon eingeschränkten Leben verzichtet, um ein inklusives Wohnprojekt zu realisieren und um seine Situation auf politischem Weg zu verbessern. Schließlich bringt Frau Boros auch noch ihre eigenen Erfahrungen in den Film mit ein: Sie erzählt vom unerwarteten Selbstmord eines WG-Mitbewohners und fragt beharrlich, ob er in einer liebevolleren, fürsorglicheren Welt vielleicht noch am Leben wäre. 

 

Die Menschen in „Die zärtliche Revolution“ haben eines gemeinsam: die Erkenntnis, dass unser sogenanntes Pflegesystem niemals ein System, sondern nur ein Notbehelf war, der schon seit geraumer Zeit nicht mehr funktioniert. Doch sie belassen es nicht bei bloßen Lippenbekenntnissen, die die meisten Politiker in die Mikrofone der Medien hineinreden, sondern sie haben bereits begonnen, an der Veränderung der zahlreichen Missstände zu arbeiten. Annelie Boros berichtet von der titelgebenden „zärtlichen Revolution“, die in unserem Land seit einiger Zeit im Gange ist. Doch wird diese Revolution Erfolg haben? Werden sich die Dinge tatsächlich zum Besseren wenden? 

 

Frau Boros stellt viele Fragen, aber sie neigt dankenswerterweise weder zum Predigen noch zur Schulmeisterei: Sie zeigt die Situation der Menschen, lässt Betroffene zu Wort kommen und ihren Alltag schildern – einen Alltag, der für andere Menschen ein kaum erträglicher Ausnahmezustand wäre. Wenn man sich als nicht betroffener Zuschauer die Frage stellt, wie lange man das aushalten würde, was Pflegende tagtäglich durchmachen, muss die ehrliche Antwort „allerhöchstens ein paar Tage“ lauten. 

 

„Die zärtliche Revolution“ macht überdeutlich, dass wir in einer Zeit leben, in der Empathie und die daraus zwingend erfolgende Hinwendung zum hilfsbedürftigen Menschen zwar ständig propagiert, aber tatsächlich geringgeschätzt, oft sogar verachtet wird. Gleichzeitig wird deutlich, wie hirnrissig diese Haltung ist. Wir haben es, unabhängig von Alter und Gesundheitszustand, mit einem blindwütig zuschlagenden Schicksal zu tun. Das heißt: Jeder von uns kann von einem Tag zum andern auf die Hilfe anderer angewiesen sein. Menschen, die anderen Menschen helfen, sollten also gesellschaftlich unterstützt, nicht benachteiligt werden.

 

Doch wie ist dieser unhaltbare Zustand zu ändern? „Die zärtliche Revolution“ bietet keine einfachen Lösungen an, die ohnehin nicht funktionieren. Der gesamte Film ist ein Appell an die Menschen, im eigenen Umfeld, im sogenannten „Kleinen“ anzufangen, die Dinge zum Besseren zu verändern und dabei zu hoffen, dass aus dem Schneeball, den man dabei formt, eine Lawine wird.

 

Gaby Sikorski

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