Drifter

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Als Ende der siebziger Jahre das Buch „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“ Deutschland bewegte und für hitzige Debatten sorgte, war noch keiner der Protagonisten aus Sebastian Heidingers Milieu-Studie „Drifter“ überhaupt geboren. Und dennoch werden sie in ihrem Alltag immer wieder von diesem zerstörerischen Mythos eingeholt. Heidingers Film begleitet Aileen (16), Daniel (25) und Angel (23) bei dem Versuch, ihre Würde und ihr Leben zwischen Heroin spritzen und Straßenstrich zu bewahren. „Drifter“, der im vergangenen Jahr auf der Berlinale mit dem „Dialogue en Perspective“-Preis ausgezeichnet wurde, zwingt zu einer Auseinandersetzung mit Schicksalen, die viel zu oft übersehen werden.

Webseite: www.salzgeber.de/kino

Deutschland 2007
Regie: Sebastian Heidinger
Produzenten: Nils Boekamp, Hartmut Bitomsky
Montage: Alexander Fuchs
Kinostart: 11.6.2009
Laufzeit: 81 Minuten
Verleih: Salzgeber

PRESSESTIMMEN:

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FILMKRITIK:

Die Gegend um den Berliner Bahnhof Zoo wirkt auf Außenstehende wie ein hermetisch abgeschlossener Kosmos, um den sich seit nunmehr drei Jahrzehnten vermutlich mehr Mythen und Legenden als um jeden anderen öffentlichen Ort der Hauptstadt ranken. Seitdem die Geschichte der Christiane F. aufgeschrieben und verfilmt wurde, ist deren Schicksal untrennbar mit der Topografie des Bahnhofs Zoologischer Garten sowie der angrenzenden Straßen und Plätze rund um die Gedächtniskirche verbunden. Mittlerweile lebt dort eine andere Generation von „Christiane F.s“, die Sebastian Heidinger, Absolvent der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin, in seinem Debüt „Drifter“ über mehrere Monate zunächst ohne und dann mit Kamera begleitete.

Die Alltagsbeobachtungen dieser als „erzählerischer Dokumentarfilm“ (Zitat: Presseheft) konzipierten Milieustudie folgen der erst 16jährigen Aileen und ihren Freunden Angel und Daniel. Die Drogen, vor allem Heroin, bestimmen den Tag und geben ihm – so seltsam es klingen mag – eine Struktur. Eine ohne jeden Zweifel Zerstörerische. Um an das Geld für ihren Drogenkonsum zu kommen, gehen Aileen und Angel regelmäßig anschaffen. Bisweilen übernachtet Angel sogar bei einem seiner Freier, zu dem er ein auf den ersten Blick seltsames Vertrauensverhältnis aufgebaut hat. Da kann es passieren, dass er das gemeinsame Abendessen kocht und sie anschließend wie ein altes Ehepaar gemeinsam vor dem Fernseher sitzen. Aileen wiederum zieht es vor, eine Notunterkunft für Jugendliche aufzusuchen und dort zu übernachten. Bevor sie sich jedoch in ihr Bett legen kann, wird sie wie in einem Gefängnis auf mögliche Drogen kontrolliert. Routine für alle Beteiligten.

Bewusst verzichtet Heidinger auf einen begleitenden Kommentar. Auch bleiben die Biographien seiner Protagonisten weitgehend im Dunkel. Über ihre Vergangenheit erfährt man so gut wie nichts. Als Aileen später mit dem Zug in ihren Heimatort aufbricht, bleibt es dem Zuschauer überlassen, sich das soziale wie familiäre Umfeld des Teenagers vorzustellen. Heidinger und mit ihm die Kamera verlassen zu keiner Zeit das Carré um den Bahnhof Zoo. Aus dieser geographischen Beschränktheit erwächst ein diffuses Gefühl der Enge, was sich zugleich im Aufbau des Films widerspiegelt. Es sind anonyme Orte, an denen Menschen kaum Spuren hinterlassen, die hier als Motiv einer anderen Berliner Republik herhalten müssen. Öffentliche Toiletten, Krankenhäuser, Arztpraxen, Notunterkünfte oder der Straßenstrich treten für Aileen, Angel und Daniel an die Stelle einer für uns selbstverständlichen Privatheit in den eigenen vier Wänden. Das Milieu, so wie Heidinger es einfängt, wird zu einem Synonym für Orientierungslosigkeit, Überforderung und Heimatlosigkeit. Der Blick ist nüchtern, fast sachlich und der Mythos weit weg.

Ein loser, sprunghafter Erzählstil beschreibt den Grundrhythmus von „Drifter“. Erst allmählich verdichten sich dabei die Beobachtungen zu einem Handlungsgerüst, das sich organisch aus der Szeneabfolge ergibt und gerade deshalb weder forciert noch konstruiert erscheint. Interessant ist, dass die Tristesse im Milieu ab und an sogar ironische Zwischentöne zulässt. Nicht-Hauptstädter könnten zudem glauben, dass in Berlin niemals die Sonne aufgeht, derart viele Aufnahmen entstanden abends oder nachts. Bezeichnenderweise endet „Drifter“ jedoch mit dem Bild einer Morgendämmerung, in die sich – wenn man den von Heidinger angebotenen Strohhalm ergreifen will – die vage Hoffnung eines echten Neuanfangs für Aileen, Daniel und Angel hineinprojizieren lässt.

Marcus Wessel

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