Ein Schweigen

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Ein Anwalt, der seit Jahren die Opfer eines Mordprozesses vor Gericht verteidigt – und einst selbst Schuld auf sich lud. Seine Frau und sein Sohn, die unter der Verdrängung des Familiengeheimnisses leiden. Und eine sensationslüsterne Öffentlichkeit, die die fragwürdigen Vorgehensweisen der Medien unterstützt. Das sind die (inhaltlichen) Zutaten, aus denen sich das Familien-Drama „Ein Schweigen“ zusammensetzt. Ein nicht immer kohärenter und in sich schlüssiger Film, der aber wichtige Fragen aufwirft und seine mitreißende Spannung rein aus der Fragilität der Familie bezieht, die jederzeit auseinanderbrechen könnte.

Frankreich 2023
Regie: Joachim Lafosse
Buch: Sarah Chiché, Chloe Duponchelle, Valérie Greven
Darsteller: Daniel Auteuil, Emmanuelle Devos,
Salomé Dewaels, Larisa Faber
Länge: 99 Minuten
Verleih: Arsenal Filmverleih
Kinostart: 13. Juni 2024

FILMKRITIK:

Der erfolgreiche Anwalt François (Daniel Auteuil) ist aufgrund eines Aufsehen erregenden Falls aktuell in den Medien sehr präsent. Das dahinterstehende Verbrechen beherrscht seit Wochen die Schlagzeilen: Es geht um einen Fall von Pädophilie, der mit Inzest verknüpft ist. Als jedoch ähnliche Vorwürfe innerhalb von François' Familie auftauchen, beginnt diese auseinanderzubrechen. Vor allem für seine Frau Astrid (Emmanuelle Devos) und seinen jüngsten Sohn (Matthieu Galoux) stehen Monate voller schockierender Offenbarungen und längst verdrängter Wahrheiten an.
Über Joachim Lafosses Film liegt früh ein dunkler Schatten der Traurigkeit und Verdrängung. Das Wegsehen und das konsequente Beiseiteschieben früherer Ereignisse halten das fragile Familiengefüge, das hier präsentiert wird, gerade noch zusammen. Und das seit Jahren. Seitdem die dramatischen Vorfälle, in deren Zentrum François stand und eine ungeheuerliche Tat beging, Astrid zum Schweigen zwingen. Es ist mehr Schein als Sein, der familiäre Zusammenhalt bröckelt.
Das zeigt sich nicht zuletzt an der Tatsache, dass die Tochter von François und Astrid bereits vor Jahren auszog und die Familie verließ. Ein Grund damals: der Medienrummel und -hype rund um den spektakulären, kraftraubenden Fall, in dem Francois die Opfer als Anwalt schon damals jahrelang vertrat. „Ein Schweigen“ widmet sich in bestimmten Dialogszenen und anderen Momenten den Auswirkungen solch zermürbender Strafprozesse. Etwa den schwerwiegenden (psychischen wie körperlichen) Folgen für die Beteiligten, von denen François vor der Presse auch einmal ganz offen spricht.
Die Medien selbst kommen nicht gerade gut weg. Lafosse stellt sie als sensationsgeile, penetrante Meute dar, die vor dem Anwesen des Star-Anwalts lauert und somit die familiäre Ruhe im Haus weiter stört. Spannung erzeugt Regisseur Lafosse mit der schrittweisen Enthüllung von François‘ schuldbeladenem Verhalten.
Doch nicht alles in „Ein Schweigen“ ist glaubwürdig und einleuchtend. Das betrifft zum Beispiel manch Handlungs- und Verhaltensweise von Astrid. Mal gibt sie sich als distanzierte, emotionslose Mutter und undurchschaubare Frau. In einer anderen Szene gibt sie sich ganz ihren Gefühlen ihn und tanzt ungezwungen und eng umschlungen mit ihrem Sohn in der Küche herum. Als würde alle seelische Last in einem kurzen Augenblick von ihr abfallen.
Einige Zufälle, vor allem rund um die Enthüllungen, wirken etwas bemüht und forciert. Das betrifft auch die entscheidenden Gemeinsamkeiten in den beiden zentralen Fällen: in jenem, in dem François in der filmischen Gegenwartshandlung als Anwalt involviert ist. Und schließlich jener Vorfall, der einige Dekaden zurückliegt, aber noch immer wie Damoklesschwert über der Familie schwebt.
Am Ende aber findet „Ein Schweigen“ wieder in die Spur. Dank eines radikalen, mutigen Endes und einer elektrisierenden, raffiniert inszenierten Verhörszene, die sich rund 20 Minuten vor dem Finale abspielt. Alle Familienmitglieder werden, untergebracht je eigenen Räumen, von der Polizei verhört und mit den Beweisen konfrontiert. Die Szene dauert nur wenige Minuten aber innerhalb dieser ungeschnittenen Vernehmungssequenz zieht Lafosse die Spannungsschraube konsequent an. Es geht aber vielmehr um eine emotionale Spannung – wie während des gesamten Films bereits. Und eben nicht um die klassische Thriller-Spannung inklusive der Frage: Wer ist der Schuldige? Auch das macht den Film so eigenwillig.

Björn Schneider.