Eine Sekunde

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Zhang Yimou ist einer der erfolgreichsten Vertreter der „fünften Generation“ chinesischer Filmschaffender. Mit Gesellschaftsdramen wie „Rotes Kornfeld“ von 1987 löste er in China Kontroversen aus und geriet in den Fokus der Zensur, bevor er in den 2000er-Jahren mit dem Wuxia-Film „Hero“ oder der Inszenierung der Olympia-Feier 2008 unverdächtig blieb. „Eine Sekunde“ erinnert an das Frühwerk des Regisseurs – und wurde prompt von den Behörden beanstandet. Die Gründe bleiben diffus, immerhin übt das Drama nur sachte Gesellschaftskritik, sondern zielt auf universelle Zwischenmenschlichkeit und sinnlich zelebrierte Kinoliebe.

Webseite: www.mubi.com/de/films/one-second

Yi miao zhong
China 2020
Regie: Zhang Yimou
Drehbuch: Zhang Yimou, Zou Jingzhi nach dem Roman von Geling Yan
Darsteller: Yi Zhang, Wei Fan, Haocun Liu, Yan Li, Xiaochuan Li

Laufzeit: 104 Min.
Verleih: MUBI
Kinostart: 14. Juli 2022

FILMKRITIK:

Zur Zeit der chinesischen Kulturrevolution flieht Zhang aus einem Arbeitslager, weil er unbedingt den Kurzauftritt seiner Tochter in der „Wochenschau Nr. 22“ sehen will. Auf der Suche nach einer Kinovorführung beobachtet er, wie das verschlagene Waisenkind Liu eine Filmdose stiehlt. Zhang nimmt die Verfolgung auf, entwendet die Dose von Liu, die sich an seine Fersen heftet und die Filmrolle wiederum einheimst. Im nächsten Dorfkino ist die Aufführung gefährdet, weil ausgerechnet die Wochenschau-Rolle beim Transport stark verschmutzt wurde. Der von allen nur „Film-Onkel“ genannte örtliche Filmvorführer hat jedoch eine rettende Idee.

Die für 2019 angekündigte Premiere von „Eine Sekunde“ im Berlinale-Wettbewerb wurde wegen „technischer Probleme“ annulliert, erst 2021 eröffnete die dritte Fassung des Dramas das Filmfestival von San Sebastián. Was genau der Zensur missfiel, bleibt unklar. Zwar spielt der Plot während der in China tabuisierten Kulturrevolution, ist aber eher beiläufig politisch. Der pedantische Vorführer gibt sich so Mao-treu wie das Personal des Films im Film „Heroische Söhne und Töchter“, weshalb die zarte Bande zwischen ihm und Zhang von Misstrauen gezeichnet ist. Zudem zeigt Zhang Yimou politisch protegierte Gewalt und bittere Armut mit Hunger, Schmutz und zerschlissener Kleidung. All das mag zur Beanstandung beigetragen haben, obgleich Yimou nicht auf die Politik, sondern auf das Persönliche abhebt. Zhang und Liu werden auf ruppige Weise zum gegenseitigen Vater- und Tochterersatz. Und bei der Hatz auf die Filmrolle entwirft Yimou beschwingte Situationskomik.

Gleichzeitig ist „Eine Sekunde“ eine Liebeserklärung an das analoge Kino. Hier hat das Drama viele Parallelen zum aktuellen indischen Jugendfilm „Das Licht, aus dem die Träume sind“, als dessen erwachsene Version es erscheint. Motive wie der Lichtstrahl des Filmprojektors, ein weißes Laken als improvisierte Leinwand und das fortwährende Spiel mit Licht und Schatten prägen die Ästhetik beider Filme. Die Filmvorführung ist ein echtes Event, ein Kinobesuch sei für die Dorfleute wie ein Neujahrsfest, meint der Vorführer. Sogar die Männer aus einem Schlägertrupp ringen mit den Tränen, als sich Vater und Tochter im dargebotenen Propagandafilm wiedertreffen.

Die Inszenierung ist im besten Sinn altmeisterlich. Der 72-jährige Zhang Yimou beherrscht die Mittel des Kinos und entfaltet die Geschichte mit viel Bedacht und einer bündigen Montage. Dabei entstehen schwelgerische Bilder vom Zelluloid und atemberaubende Breitbildaufnahmen der Wüste Gobi in der Nacht oder in gleißendem Sonnenlicht. Musik ertönt sehr selten, auch die Verfolgungsjagden kommen ohne aus. Einige Sequenzen arrangiert Yimou rein filmisch ohne Worte, andere bestehen aus langen, stets lebendigen Dialogen. Mit dem Rhythmus aus weiten und nahen Einstellungen wirkt „Eine Sekunde“ wie ein Spätwestern, der aller Betrübtheit zum Trotz optimistisch ist. Am Ende bringt ein wirklich sehenswertes Kinobild die Gemengelage brillant auf den Punkt.

 

Christian Horn