Endlich Tacheles

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Was hat der Holocaust mit mir zu tun? Liegen die Gräueltaten in den Vernichtungslagern nicht schon viel zu lange zurück? Und kann man die Vergangenheit nicht endlich ruhen lassen? All diese Fragen stellt sich der jüdische Berliner Yaar, der davon träumt Computerspiele zu entwickeln. Mit dem Judentum fühlt er sich nicht verbunden – bis er zu einer Reise aufbricht, die ihm die schmerzliche Geschichte seiner Familie offenbart. Die emotional gewichtige Doku „Endlich Tacheles“ kommt seinen Figuren sehr nah und ist von erzählerischer Ruhe geprägt. Sie zeigt drei Generationen von Menschen, die alle ihren ganz persönlichen Umgang mit den Traumata der Vergangenheit suchen.

Website: http://www.realfictionfilme.de

Deutschland 2020
Regie: Jana Matthes & Andrea Schramm
Drehbuch: Jana Matthes & Andrea Schramm
Länge: 104 Minuten
Verleih: Real Fiction
Kinostart: 14.10.2021

FILMKRITIK:

Yaar ist Anfang 20, Jude und lebt in Berlin. Sein großes Ziel ist es, Gamedesigner zu werden. Er selbst sieht sich als den „unjüdischsten Juden der Welt“, der die Holocaustgeschichten seines Vaters nicht mehr hören kann. Um sich abzugrenzen und einen eigenen Umgang damit zu finden entwickelt Yaar ein Computerspiel: „Shoah. Als Gott schlief.“ Die zwei wichtigsten Charaktere sind ein jüdisches Mädchen und ein SS-Offizier. Die Handlung des Spiels orientiert sich an den traumatischen Erlebnissen seiner Großmutter Rina im Krakauer Ghetto. Und für den Nazi-Offizier dient ein realer Vorfahre von Marcel, dem besten Freund von Yaar, als Vorbild. Gemeinsam mit einer weiteren Freundin begeben sich die Drei auf eine Reise in die Vergangenheit. Sie besuchen Rina in Krakau und entdecken dabei ein lange gehütetes Familiengeheimnis.

Die Idee von der Entwicklung eines Spiels, das im Zweiten Weltkrieg angesiedelt ist und Täter sowie Opfer direkt aufeinandertreffen lässt, dient als erzählerisches Grundgerüst und treibt das Geschehen voran. Im ersten Drittel des Films sieht man den Star-Wars- und Computerspiele-Fan Yaar zum Beispiel mit seinem Vater über den Inhalt des Spiels diskutieren. Etwas später beobachten wir Yaar dabei, wie er die ersten Entwürfe und Zeichnungen möglicher Avatare begutachtet.

Zu diesem Zeitpunkt hat man dank der einfühlsamen Inszenierung von Jana Matthes und Andrea Schramm bereits einen wahrhaftigen Eindruck von Yaar und seiner Einstellung zum Judentum bekommen. „Alles was ich mit dem Judentum verbinde sind Opfer“, sagt er im Gespräch mit der Mutter. Außerdem kann er seinen Vater nicht verstehen, der seit Jahren unter den Traumata seiner eigenen Eltern (mit)leidet. So sehr, dass er immer wieder in Depressionen verfällt.

Das Verhältnis zwischen Yaar und seinem Vater ist eines, welchem die Filmemacher ohnehin besondere Aufmerksamkeit schenken. Ihre Unterhaltungen verdeutlichen, wie präsent die Shoa mit all ihren Folgen bis heute in den Familien ist – und damit auch die dritte Generation, die Enkel der Opfer und Überlebenden, betrifft. „Endlich Tacheles“ zeigt, wie junge Menschen heute eben auch mit diesem schweren Erbe umgehen können: auf kreative, phantasievolle, spielerische Weise. Zum Beispiel durch die (virtuelle) Verarbeitung der Familienerlebnisse in einem Computerspiel. So wie es Yaar tut.

Mit Beginn der Reise nach Polen ändert „Endlich Tacheles“ seine Tonalität und nimmt eine ungemein persönliche Note an. Das Familienschicksal rückt nun ins Zentrum. Yaar und sein Vater erfahren im Gespräch mit einer anderen, vom Holocaust schwer getroffenen Familie was damals tatsächlich mit Rinas Bruder geschah.

Es kommt in dieser Szene zu einem Moment, der gleichsam für den Zuschauer schmerzhaft mitanzusehen ist. Schramm und Matthes fangen die emotionale Reaktion von Yaars Vater ungefiltert und direkt ein. Auch in anderen Momenten sieht man den Vater leiden und mit sich sowie seinen Emotionen, der Wut und Aggression ringen. Zum Beispiel beim Besuch des unweit von Krakau gelegenen KZ Plaszow oder dem ehemaligem Gestapo-Hauptquartier in Krakau. Bei allen Stationen anwesend: Yaar, dem das Schicksal seiner Familie erst am Ort der Verbrechen so richtig klar wird.

„Endlich Tacheles“ entwickelt sich somit von einer Doku über einen Gamedesign-Studenten ohne Bezug zum Judentum zu einer einnehmenden Studie über einen jungen Mann, der erkennt, was die Vergangenheit mit ihm selbst zu tun hat. Und dass die intensive Auseinandersetzung mit der eigenen Familiengeschichte Menschen wie ihm und anderen Juden der „dritten Generation“ dabei hilft, das Verhalten sowie die Ängste der eigenen Eltern besser zu verstehen.

Björn Schneider