Evolution

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Der ungarische Regisseur Kornél Mundruczó erzählt in drei Episoden die Geschichte dreier Generationen derselben jüdischen Familie. Es geht um Vorverurteilung und Stigmatisierung, die Folgen des Holocaust bis in unsere Zeit und die Nachwirkungen, die er in der Gesellschaft verursacht hat. Der ergreifend und glaubhaft gespielte Film „Evolution“ ist geprägt von dramaturgischer Originalität und wirft bedeutende Fragestellungen auf. Inhaltlich und hinsichtlich der inszenatorischen Umsetzung befinden sich allerdings nicht alle Episoden auf dem gleichen Qualitätsniveau.

Webseite: www.port-prince.de/projekt/evolution/

Ungarn, Deutschland 2021
Regie: Kornél Mundruczó
Drehbuch: Kornél Mundruczó, Katá Weber
Darsteller: Annamária Láng, Lili Monori, Goya Rego

Länge: 97 Minuten
Kinostart: 25.08.2022
Verleih: Port au Prince Pictures

FILMKRITIK:

Über drei Generationen folgt „Evolution“ dem Schicksal einer jüdischen Familie vom Ende des Zweiten Weltkriegs bis in die Gegenwart. Kernfrage des Films: Was bedeutet es, in Deutschland jüdisch zu sein? „Evolution“ ist in drei Bestandteile gegliedert, die inhaltlich miteinander verknüpft sind. 1945: In einer Gaskammer wird die kleine Éva gefunden, die auf wundersame Weise überlebt hat. Jahrzehnte später erkundigt sich Évas Tochter Léna (Annamaria Lang) bei ihrer mittlerweile von leichter Demenz betroffenen Mutter (Lilli Monori) nach Geburtsurkunden und Ausweispapieren. Es stellt sich heraus, dass alle Dokumente gefälscht sind, um die jüdische Herkunft zu verbergen. Und dann gibt es da noch Évas Enkel Jonás (Goya Rego). Jónas lebt in Berlin und fühlt sich als Jude in der Schule ausgeschlossen.

Éva, Léna und Jonás – drei Generationen, die alle auf ihre Weise mit ihrer Herkunft, Religion und Identität konfrontiert sind. Und die mit den gesellschaftlichen Ausgrenzungen, Stigmatisierungen und den Folgen in der jeweiligen Zeit zu kämpfen haben: Während des Zweiten Weltkriegs, Jahrzehnte nach dem Krieg und der Massenvernichtung der europäischen Juden und in der Gegenwart unserer 20er-Jahre, in der noch immer viele Vorurteile und Ressentiments in den Köpfen der Menschen verankert sind. Fast 80 Jahre nach dem Holocaust.

Nach dem einführenden, nur rund fünfzehnminütigen Teil über Éva, der im KZ Ausschwitz spielt und visuell sowie akustisch packend inszeniert ist, richtet Regisseur Kornél Mundruczó sein Augenmerk auf die mittlere Episode seines filmischen Triptychons, das ganz im Zentrum von „Evolution“ steht. Viel wird geredet und diskutiert in dieser Episode, vor allem über die Fragen der „Vererbung“ von Schmerz und Verlust, das Verdrängen der eigenen Identität und wie sinnvoll und nötig es war, dass Éva nach dem Krieg im kommunistischen Ungarn ihre Herkunft und wahre Geschichte verschwieg.

Der Regisseur zeichnet ein direktes, unverfälschtes Bild von den unterschiedlichen Auffassungen und Ansichten der Generationen, die sich in den mitreißenden Streitgesprächen und Wortgefechten zwischen Mutter und Tochter entladen. Die beiden Schauspielerinnen Monori und Láng spielen mit würdevoller Zurückhaltung und darüber hinaus punktet der Film im Mittelteil mit der Thematisierung relevanter, spannender Fragestellungen und einer schlanken Erzählung ohne unnötigen Storyballast.

Diesbezüglich fällt die dritte, mit Allegorien und anstrengender Symbolik überladene Episode über den jugendlichen Jónas qualitativ leider ab. Es fehlt an inhaltlicher Stimmigkeit und dem Bezug zu den vorherigen Episoden – denn nun richtet Mundruczó sein Interesse vor allem auf die emotionalen Wirren eines Heranwachsenden und die Liebesgeschichte mit einer Gleichaltrigen. Den Fokus seines Films verliert er damit immer wieder aus den Augen, denn viel elementarer und passender als die zu ausführliche Betrachtung einer Jugendliebe wären folgende Fragen gewesen: Welche Ausdrucksformen kann antisemitischer Hass in der Gegenwart annehmen? Was bedeutet moderne Judenfeindschaft und wie sieht die Lebenswirklichkeit in Deutschland lebender Juden wirklich aus? Diesen Aspekten schenkt „Evolution“ zu wenig Beachtung.

 

Björn Schneider