Gabrielle

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Das Thema Inklusion ist derzeit in aller Munde. Über die Möglichkeiten, Schwierigkeiten und Grenzen der Einbeziehung behinderter Menschen erzählt das kanadische Drama auf ungemein berührende, sanfte Weise. Es handelt von der Liebe zweier lebenslustiger, musikalischer junger Menschen mit einem Gendefekt. Der zweite Langfilm der kanadischen Regisseurin Louise Archambault und der Produzenten von Monsieur Lazhargewann den Publikumspreis in Locarno, eröffnete das Filmfest Hamburg und war der kanadische Oscar-Beitrag 2014.

Webseite: www.gabrielle-derfilm.de

Kanada 2013
Regie: Louise Archambault
Buch: Louise Archambault, Valérie Beaugrand-Champagne
Darsteller: Gabrielle Marion-Rivard, Alexandre Landry, Mélissa Désormeaux-Poulin, Vincent-Guillaume Otis, Robert Charlebois
Länge: 104 Minuten
Verleih: Alamode Film
Kinostart: 24. April 2014
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FILMKRITIK:

Gabrielle (Gabrielle Marion-Rivard) liebt es, zu singen. Gerade sind die Chorproben besonders aufregend, denn Gabrielle und ihre Freunde üben für ein Festival, bei dem sie zusammen mit dem bekannten Chanson-Sänger Robert Charlebois auf der Bühne stehen werden. Noch dazu hat sich Gabrielle in Martin (Alexandre Landry) verliebt, der ebenfalls im Chor ist. Aber das enge Verhältnis der Twentysomethings wird von ihrer Umwelt mit gemischten Gefühlen gesehen. Denn die beiden haben das Williams-Beuren-Syndrom, einen Gendefekt, wegen dem sie auf Betreuung angewiesen sind. Vor allem Martins Mutter möchte nicht, dass die beiden sich küssen, geschweige denn Sex haben. Nach einem Vorfall bei einer Party verbietet sie ihrem Sohn, Gabrielle zu treffen. Zusätzlich zum Liebeskummer erfährt Gabrielle auch noch, dass ihre geliebte Schwester Sophie (Mélissa Désormeaux-Poulin) Kanada verlassen und zu ihrem Freund nach Indien ziehen wird.
 
Dürfen geistig geistig behinderte Menschen Sex haben? Dürfen sie auch Kinder zeugen? Welche Freiheiten gestehen wir ihnen zu? Welche Grenzen setzen wir, und warum? Und welche Auswirkung hat es überhaupt auf uns „Normale“, wenn wir „die Anderen“ als „geistig behindert“ bezeichnen? „Gabrielle“ stellt diese schwierigen Fragen, ohne zu behaupten, es gebe für sie eine abschließende Antwort. Das Drama schafft etwas ganz anderes: Es setzt auf überzeugende Weise filmische Mittel ein, um den Zuschauer ganz intim in eine ihm fremde Welt hineinzuversetzen. Mit einer beweglichen Handkamera und in langen Plansequenzen sind Regisseurin Louise Archambault und ihr Team ganz nah dran an Gabrielle und den anderen Figuren. Vor den Fragen nach den Unterschieden kommt also das Gefühl für die Gemeinsamkeiten.
 
Und so wirkt „Gabrielle“ streckenweise wie ein Coming-of-Age-Drama. Der Film berührt auch deshalb, weil sich der Zuschauer in den Erfahrungen von Gabrielle und Martin selbst wiederfindet. Auch in ihrem Sehnen nach Selbstbestimmung und danach, geliebt zu werden. Wenn Gabrielle daran scheitert, im Appartement ihrer Schwester allein zurecht zu kommen oder sie sich nach auf eigene Faust unternommener Suche nach Martin in der Stadt verirrt, kommen auch die Aspekte der Behinderung zum Tragen. Dann ist es Archambault aber schon gelungen, deutlich zu machen: Das sind in erster Linie menschliche Probleme, erst in zweiter die von „Behinderten“.
 
Ihr Film arbeitet auf leise und sehr überzeugende Weise mit großen Gefühlen. Nicht zuletzt tragen dazu auch die Szenen bei, in denen gemeinsam musiziert und gesungen wird. Die Songs entwickeln große Kraft und unterstreichen noch einmal den Appell des Films, vor den Unterschieden die Gemeinsamkeit menschlicher Erfahrung zu sehen. Und dazu zählt neben der Liebe nun einmal die Kunst. In der wunderschönen Schlusssequenz vermeidet es Archambault, zu einer großen Botschaft auszuholen. Wieder lässt sie ihre Protagonisten ihre eigenen Erfahrungen machen – und feiert auf ganz unangestrengte Weise die Schönheit des Lebens.
 
Oliver Kaever