Geborgtes Weiß

In einer faszinierenden Mischung aus Thriller und Familiendrama konfrontiert „Geborgtes Weiß“ ein linksliberales Paar mit einem Fremden – und damit mit seinen eigenen Abgründen. Atmosphärisch dicht schaut der Film hinter die Fassade der Bürgerlichkeit und fragt nach dem Preis, den scheinbar weltoffene Menschen für ihr privates Glück zu zahlen bereit sind. Hauptdarstellerin Susanne Wolff brilliert in einer Hauptrolle, die ihrer Glanzleistung im Flüchtlingsdrama „Styx“ (2018) in nichts nachsteht.

Website: http://www.farbfilm-verleih.de/

Deutschland 2019
Regie: Sebastian Ko
Drehbuch: Karin Kaçi, nach einer gemeinsamen Idee mit Sebastian Ko
Darsteller: Susanne Wolff, Ulrich Matthes, Florist Bajgora, Elia Gezer, Bruno Cathomas, Heike Trinker
Länge: 100 Minuten
Verleih: Farbfilm Verleih
Kinostart: 21.07.2022

FILMKRITIK:

Selten war ein Gang durch den Baumarkt so spannend. Zunächst scheint alles ganz normal, Marta (Susanne Wolff) schäkert per Handy mit ihrem Mann Roland (Ulrich Matthes), von dem sie wissen will, welches Ersatzteil für den kaputten Abfluss sie denn nun besorgen soll. Aber dann ist Sohn Nathan (Elia Gezer) wie vom Erdboden verschwunden. Und die Kamera stürzt sich mit der Mutter in das Labyrinth der Einkaufsstätte. Erkundet die langen Gänge, die in ihrer Höhe plötzlich wie Schluchten wirken. Läuft hinaus in den Baustoffbereich, dann wieder hinein in die leergefegte Halle – es muss wohl ein kundenarmer Montagmorgen sein – und erneut hinaus. Nah an der wachsenden Verzweiflung von Marta erspürt Kameramann Andreas Köhler das Aufsteigen der Angst um den Sechsjährigen bis hin zur hellen Panik. Was wäre, wenn der über alles geliebte Junge entführt worden wäre?

Das ist einerseits alltäglich. Kinder lassen sich vom überbordenden Warenangebot nun mal locken, eigene Wege zu gehen. Anderseits ziehen Regisseur Sebastian Ko und Drehbuchautorin Karin Kaçi von Anfang an einen doppelten Boden ein. Irgendetwas stimmt nicht an Martas Reaktion, einer beruflich erfolgreichen Ärztin jenseits der 40, der Susanne Wolff ein schillerndes Oszillieren zwischen zupackendem Optimismus und undurchsichtiger Vergangenheit verleiht. In der nach außen glücklichen Beziehung mit Kind und dem älteren Mann, der nicht der Vater ist, schwingt ein Geheimnis mit. „Du fehlst mir“, sagt Partner Roland, als Marta ihm den Nacken massiert. „Wieso“, gibt sie zurück, „ich bin doch da“. Wie so oft bringt ein Dritter das fragile Gleichgewicht des wohlsituierten Paares in der alten, von Rolands reicher Familie geerbten Villa im Grünen aus dem Takt. In diesem Fall ist es der jüngere Arbeiter Valmir (Florist Bajgora) aus Albanien, der das Bad renovieren soll.

Die Versatzstücke der Kombination von Familiendrama und Thriller sind nicht neu: das einsame Haus, die schaurig-schöne Moorlandschaft, die bedrohliche Musik. Aber ähnlich wie in seinem Debüt „Wir Monster“ (2014) setzt Regisseur Sebastian Ko sie so zusammen, dass die gutbürgerliche Fassade Risse bekommt. Atmosphärisch dicht erkundet die Inszenierung die Sehnsüchte dreier Menschen nach einer Geborgenheit, die sie um keinen Preis verlieren oder – im Falle des in Deutschland fremden Valmir – um jeden Preis erobern wollen. In welche Abgründe sie dabei eintauchen, umkreist der Film in sorgfältig komponierten Einstellungen, die das in jedem Menschen schlummernde Böse nicht einfach behaupten, sondern Schicht für Schicht freilegen – bis hin zu schockartigen Durchbrüchen.

„Geborgtes Weiß“ gehört zu den Filmen, die ähnlich wie der demnächst anlaufende „Le Prince“ die linksliberale Weltoffenheit gegenüber Migranten auf den Prüfstand stellen. Gilt die Willkommenskultur auch dann, wenn sie das eigene Glück bedroht? Und zeigen sich tief sitzende Vorurteile erst, wenn es um engste Beziehungen geht, in die das Fremde vordringt? Der Mix aus Drama und Genre gibt darauf keine einfachen Antworten. Aber der Film, mit dem Sebastian Ko nach einigen „Tatorten“ und Fernseharbeiten ins Kino zurückkehrt, beharrt hintergründig darauf, dass der Wohlstand des Westens erkauft ist mit dem Leid von Menschen aus ärmeren Regionen. Und dass es keinen Grund für ein Menschenbild gibt, das eine fleckenlose Weste für möglich hält. Schon die alten Griechen wussten: „Ungeheuer ist viel. Doch nichts ungeheurer, als der Mensch“. (Sophokles)

Peter Gutting