Gomorrha – Reise in das Reich der Camorra

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Basierend auf dem Reportage-Bestseller von Roberto Saviano, inszeniert Matteo Garrone einen Mafia-Film der anderen Art. Ganz dezidiert versucht er jede Stilisierung, jede Verherrlichung des Gangster-Lebens zu vermeiden. Fünf lose erzählte Geschichten beleuchten unterschiedliche Aspekte der Mafia, die in Garrones nüchternem Stil zu einer dokumentarisch anmutendem Darstellung der Mafia verschmelzen.  Dafür gab es 2008 beim Filmfestival in Cannes den "Großen Preis der Jury"!

Webseite: www.gomorrha-derfilm.de

OT: Gomorra
Italien 2008
Regie: Matteo Garrone
Buch: Maurizio Braucci, Ugo Chiti, Gianni Di Gregori, Matteo Garrone, Massimo Gaudioso, Roberto Saviano
Darsteller: Toni Servillo, Gianfelice Imparto, Maria Nazionale, Salvatore Cantalupo, Salvatore Abruzzese
135 Minuten, Format: 1:2,35 (Scope)
Verleih: Prokino
Kinostart: 11. September 2008

PRESSESTIMMEN:

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FILMKRITIK:

Seit sein Enthüllungsbuch erschienen, ist lebt Roberto Saviano im Untergrund, ständig bewacht von der Polizei. Seine Mitarbeit am Drehbuch dieses Films garantiert ein Maß an Authentizität, dass nur wenige Filme über die Mafia erreichen. Ein Aspekt, ein Problem, dass die visuelle Form des Kinos, im Gegensatz zur natürlich distanzierteren Form der gedruckten Sprache mit sich bringt, versucht Garrone in seinem Film dezidiert zu vermeiden: Die Verführbarkeit der Bilder. Selbst Filme, die vorgeben Mafia und Gangstertum in all ihrer Verwerflichkeit zu schildern, schaffen es oft nicht, sich dem Sog des Verbrechens zu entziehen. Männer mit Gewehren, die sich einfach nehmen, was sie wollen, sich über das Gesetz erheben, sind nicht von ungefähr seit den Anfangstagen des Kinos eines der beliebtesten Sujets. Um der Stilisierung von Gewalt und Unterwelt zu entgehen, haben Regisseure unterschiedliche, meist nur bedingt erfolgreiche Methoden gewählt. Garrone bemüht sich, die verschachtelte Struktur der Camorra in der narrativen Form des Films zu spiegeln, was zu einer komplexen Erzählung führt, die den Zuschauer auf sehr großer Distanz hält.

Fünf Hauptstränge erzählt „Gomorrha“ an verschiedenen Schauplätzen in und um Neapel mit dem Mittelpunkt einer apokalyptischen Sozialbausiedlung. Hier lebt der kleine Toto, der keine Lust mehr hat, Botengänge für seine Mutter auszuführen und sich lieber den lokalen Gangstern andient. Auch die Halbstarken Marco und Ciro träumen vom Gangsterleben, inspiriert von der Coolness von „Scarface“, den sie zitieren. Sie gerieren sich als Möchtegerngangster, ignorieren die Warnungen eines lokalen Bandenführers und müssen die grausame Konsequenz erleben.

Ob und auf welche Weise die einzelnen Gangster verbunden sind, auf welchen Hierarchien man sich gerade bewegt, wer auf welcher Seite steht, all das erfährt man wenn überhaupt nur in Bruchstücken. Für wen etwa Don Ciro arbeitet erfährt man nicht. Man sieht den älteren Herrn nur immer wieder durch den Wohnblock gehen und als eine Art Pensionsbeauftragter der Mafia ehemaligen Gangstern oder den Frauen von Bandenmitgliedern, die gerade im Gefängnis sind, Geld auszahlen. Gehört er vielleicht zur Familie von Franco, der augenscheinlich bedeutendste Gangster, den der Film zeigt? Man erfährt es nicht. Zusammen mit seinem Protege Roberto arbeitet Franco im Bereich der illegalen Beseitigung von Giftmüll, der aus dem reichen, industriellen Norden Italiens in den Süden gebracht wird und dort in Erdgruben verschwindet. 

Mit Roberto zeigt der Film eine der wenigen Figuren, die sich den Machenschaften der Mafia widersetzen und aussteigen. Wie lange er diese Haltung überlebt erfährt man ebenso wenig wie das weitere Schicksal des Schneiders Pasquale, der Mittelpunkt des letzten Erzählstrangs ist. Kaum wahrnehmbar ist hier der Einfluss der Mafia, doch wenn die Manufakturen um Aufträge bieten, billige Arbeitskräfte die Haute Couture der nächsten Saison fabrizieren, spürt man, wie sehr die Mafia auch diesen Teil der Gesellschaft unterwandert hat.

Nach und nach entsteht so das Bild einer fast völlig korrupten Gesellschaft, eben das titelgebende Gomorrha. Ein Sündenpfuhl, in dem eine Hand die andere wäscht und ein Menschenleben nicht viel zählt. Natürlich ist, was Garrone hier erzählt, prinzipiell nichts neues, aber die Art und Weise wie er es erzählt, auf welch nüchterne, distanzierte Weise, macht „Gomorrha“ zu einem überaus eindrucksvollen Film. Dass er den Zuschauer emotional vollkommen isoliert, ihm kaum eine Gelegenheit gibt, sich einer der Figuren oder ihrem Schicksal Nahe zu fühlen, muss man dabei in Kauf nehmen, zumal man angesichts der hier gezeigten Welt auch nur schwer von Sympathieträgern sprechen kann.
 

Michael Meyns

Die Camorra, die neapolitanische Mafia, könnte, wenn es ums Töten geht, an erster Stelle stehen. So wird jedenfalls ziemlich zuverlässig berichtet. In zehn Jahren sind durch sie anscheinend mehr Menschen umgekommen als durch vergleichbare Organisationen etwa in Albanien, Sizilien oder Russland, von der ETA im Baskenland oder der IRA in Irland einmal ganz abgesehen. Von ihren Umtrieben handelt dieser Film. In alle wichtigen Wirtschaftszweige ist die Camorra verstrickt: die Lebensmittelbranche, die Mode, den Bausektor, den Tourismus, den Transport, den Restaurant- und den Bankensektor.

Fünf Schicksale werden erzählt: jenes von Pasquale, dem Modedesigner und Schneider, der für einen Hungerlohn dafür arbeitet, dass andere Millionen einsacken. 

Jenes von Don Ciro, der als Buchhalter Familien von Opfern oder Gefangenen mit Geld versorgen muss und nach einer gewissen Zeit durch seine Gewissensbisse lediglich erreicht, dass es zu einem schrecklichen Blutbad kommt.

Jenes von Roberto, der zunächst froh ist, für Franco arbeiten zu können, jedoch zu spät begreift, dass die illegalen Gift- und Mülltransporte, die der gewissenlose Übeltäter Franco organisiert, der Umwelt schweren Schaden zufügen.

Jenes des jungen Toto, der, von falschen Begriffen von Macht, Reichtum, Frauen oder Ansehen geblendet, sich als Kämpfer und Totschläger anwerben lässt und danach zwischen die Fronten gerät. 

Jenes von Marco und Ciro, die echte Mafia-Größen werden möchten, jedoch von den wirklichen Bossen als „streunende Hunde“ angesehen werden, die man beseitigen muss.

Fiktion und Realität mischen sich hier, aber zweifellos ist an diesem Film Wahres. Er ist mit einer derartigen Unmittelbarkeit in Szene gesetzt, dass man sich während der ganzen 128 Minuten in einem Dokumentarfilm wähnt. Das gilt für die Handlung, das trifft für die überaus echt wirkenden Locations zu, und das ist nicht zuletzt bei der Milieuschilderung und der schauspielerischen Darstellung der Fall.

Thomas Engel