Nichts für die breite Masse, den Kunstanspruch manchmal etwas zu demonstrativ vor sich hertragend, aber doch auf besondere Weise faszinierend: Mit „Herz aus Eis“ legt die französische Regisseurin und Drehbuchautorin Lucile Hadžihalilović einen rätselhaften Coming-of-Age-Film vor, der sich nicht über seine sparsame Handlung, sondern über seine sorgsam komponierten Bilder und seine entschleunigte Stimmung definiert. Auf der Berlinale wurde das von Hans Christian Andersens Märchen „Die Schneekönigin“ inspirierte Leinwanddrama mit einem Silbernen Bären für die herausragende künstlerische Leistung bedacht.
Über den Film
Originaltitel
La Tour de glace
Deutscher Titel
Herz aus Eis
Produktionsland
FRA, DEU
Filmdauer
118 min
Produktionsjahr
2025
Produzent
Merlin, Muriel
Regisseur
Hadzihalilovic, Lucile
Verleih
Grandfilm GmbH
Starttermin
18.12.2025
In den 1970er-Jahren lebt die Waise Jeanne (Clara Pacini) in einem Kinderheim irgendwo in den Bergen. Während sie ihre tote Mutter vermisst, findet sie Trost in Hans Christian Andersens Märchen „Die Schneekönigin“. Eines Tages nimmt die Jugendliche Reißaus, um die Welt zu entdecken, und landet auf der Suche nach einem Schlafplatz in einer Lagerhalle. Offenbar hat sie das Schicksal genau an diesen Ort geführt. Denn schon bald stellt sich heraus, dass das Gebäude als Kulisse für eine Verfilmung von Andersens berühmter Erzählung dient.
Unverhofft gerät Jeanne in den Bann der Schauspielerin Cristina (Marion Cotillard), die die Titelrolle verkörpert und deren launisches Verhalten am Set für konstante Anspannung sorgt. Zwischen der unter falschem Namen auftretenden Teenagerin und dem Kinostar entwickelt sich ein von gegenseitiger Faszination geprägtes Verhältnis, dem allerdings schnell etwas Beunruhigendes anhaftet. Die beiden scheinen sich ähnlich zu sein. Doch was genau hat das zu bedeuten?
Die Grenzen zwischen Traum und Wachzustand, zwischen Fiktion und Realität sind in „Herz aus Eis“ fließend. Kein Wunder, schließlich bildet ein Filmdreh den Hintergrund des Coming-of-Age-Dramas von Lucile Hadžihalilović. Die für ihre stimmungsvollen, betont entschleunigten Arbeiten bekannte Französin fährt auch dieses Mal die Bedeutung der Handlung zu Gunsten einer tranceartigen Atmosphäre spürbar zurück. Kino versteht sie in erster Linie als ein Tor in eine mysteriöse Welt, ein Reich, in dem unheimliche Kräfte walten.
Die oft langen Einstellungen, die flirrende Musik, das surreale Szenenbild, die mitunter sehr langsamen Bewegungen der Figuren und rätselhafte Andeutungen im Dialog sind Ausdruck eines vielleicht etwas zu deutlich ausgestellten Kunstanspruchs. Gleichzeitig entwickelt der märchenhafte Bilderreigen jedoch eine hypnotische Kraft. Ob man die ambivalente Beziehung zwischen Jeanne und Cristina auf eine zweistündige Laufzeit auswalzen muss, sei dahingestellt. Immer wieder schafft es die Regisseurin aber, einen eigenartigen Zauber zu versprühen.
Dass die beiden Protagonistinnen interessant bleiben, liegt freilich auch Zusammenspiel ihrer Darstellerinnen. Newcomerin Clara Pacini überzeugt als neugierige, mit staunenden Augen durch die Welt gehende Waise, die sich auf ihrer Reise, nicht zuletzt symbolisch, von ihrer Kindheit verabschieden muss. Fast schon furchteinflößend ist das enigmatische Charisma, das Leinwandstar Marion Cotillard als exzentrische Diva und unterkühlte Schneekönigin ausstrahlt. Hat man „Herz aus Eis“ einmal gesehen, mag man sich eine andere Schauspielerin in der Rolle gar nicht mehr vorstellen.
Was ebenfalls beeindruckt: Obwohl de facto wenig passiert, deckt die fantastisch angehauchte Erweckungsgeschichte eine große thematische Bandbreite ab. Einsamkeit, Trauer, gefährliche Obsessionen, der Schein der Filmwelt, das Loslassen der Vergangenheit, toxische Abhängigkeit und Todessehnsüchte – all diese Aspekte kommen in Hadžihalilović‘ neuer Regiearbeit zum Tragen. Auch wenn es nicht gerade leicht ist, sich auf die ungewöhnliche Machart einzulassen, kann sich das Eintauchen in diese düster funkelnde Welt lohnen.
Christopher Diekhaus







