Am 9. November jährt sich die sogenannte Kristallnacht, in der die Nationalsozialisten 1938 jüdisches Leben und jüdische Kultur zu zerstören suchten. Darunter auch jüdische Musik, doch wie Christoph Weinert in seinem Dokumentarfilm „I Dance but my Heart is Crying“ zeigt, erwies sich diese als bemerkenswert widerständig – und ist inzwischen wieder auf Platten und Bühnen zu hören.
I Dance but my Heart is Crying
Dokumentarfilm
Deutschland/Schweiz 2024
Regie & Buch: Christoph Weinert
Länge: 90 Minuten
Verleih: farbfilm Verleih
Kinostart: 7. November 2024
FILMKRITIK:
Die Machtergreifung der Nationalsozialisten im Jahre 1933 war ein drastischer Einschnitt, auch wenn die Folgen sich oft nur langsam zeigten. Jüdische Kultur wurde etwa nicht sofort komplett verboten, jüdische Musiker konnten im Rahmen des sogenannten Jüdischen Kulturbundes noch bis 1938 auftreten, allerdings nur vor jüdischem Publikum. Und auch die beiden Plattenfirmen Semer und Lukraphon konnten noch Musik von und mit jüdischen Künstlern produzieren.
Grund für diese scheinbar liberale Haltung waren vor allem die anstehenden Olympischen Spiele in Berlin, die die Nazis dazu veranlassten, ihre antisemitische Haltung zunächst noch ein wenig zu verheimlichen, um sich im Licht der Weltöffentlichkeit besser darzustellen. Doch mit Ende der Spiele im Sommer 1936 endete auch diese Zurückhaltung, Repressionen nahmen zu, mit dem Tiefpunkt der Reichspogromnacht am 9. November 1938. Neben Synagogen, jüdischen Geschäften und Einrichtungen, wurden auch die Gebäude der beiden noch existierenden jüdischen Plattenlabels überfallen, tausende Schellackplatten, Aufnahmen und Aufzeichnungen vernichtet, scheinbar gründlich und für immer.
Jahrzehnte später, Anfang der 90er Jahre, machte sich der Plattensammler und Jazz-Historiker E. Rainer Lotz auf die Suche nach den verloren geglaubten Aufnahmen – und hatte Erfolg. In aller Welt fand er Platten, die inzwischen auf CD erschienen sind, doch nicht nur das.
Das Jüdische Museum in Berlin beauftragte den jüdisch stämmigen amerikanischen Musiker und Komponisten Alan Bern die alten, oft verkratzen und verrauschten Aufnahmen neu einzuspielen. Zusammen mit seinen Mitstreitern formt Bern seitdem das Semer-Ensemble, das mit den alten, neuen jüdischen Liedern in aller Welt auftritt und die Geschichte dieser Form der jüdischen Musik am Leben erhält.
Im Mittelpunkt von Christoph Weinerts Dokumentarfilm „I Dance but my Heart is Crying“ steht nun auch die Musik. In langen Konzertszenen sieht und hört man das Semer-Ensemble, bei Proben und Auftritten, lässt Weinert Musik und vor allem Texte für sich stehen und ihre Wirkung entfalten.
Die Geschichte der Rettung der Musik wird zwischendurch eher kurz abgehandelt, neben Interviews mit den Beteiligten wie E. Rainer Lotz versuchen schwarz-weiß gezeichnete Zeichnungen einen Eindruck von der Zerstörung während der Kristallnacht zu geben. Doch der Blick liegt weniger auf der Vergangenheit und der Zerstörung, denn auf der Gegenwart, dem Überleben und der Zukunft.
Man mag denken, dass es sich bei den Liedern eben nur um Lieder handelt, doch die unterschwellige politische Dimension mancher Aufnahme sagt etwas anderes. Denn eine Trennung zwischen „deutscher“ und „jüdischer“ Musik gab es Anfang der 30er Jahre nicht, im Gegenteil. Jüdisches Leben war integraler Teil der deutschen Realität, Juden fühlten sich als Deutsche, nahmen selbstverständlich am deutschen Leben Teil – bis 1933. Dass dieser Teil der jüdisch-deutschen Kultur überlebt hat und nun wieder aufgeführt wird, darf man somit auch als späten, kleinen Sieg über den Nationalsozialismus verstehen.
Michael Meyns