It’s a free world

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Der neue Film von Ken Loach spielt in der undurchsichtigen Welt der britischen Zeitarbeitsfirmen. Hier versuchen sich zwei Frauen als selbstständige Vermittlerinnen und lernen schon bald die rauen Gepflogenheiten der Branche kennen. Kein Zweifel: In der Beobachtung der britischen Arbeiterklasse kennt sich Ken Loach immer noch am besten aus.

Webseite: www.free-world-der-film.de

Großbritannien/Deutschland/Italien/Spanien 2007
Regie: Ken Loach
Buch: Paul Laverty
Darsteller: Kierston Wareing, Juliet Ellis, Leslaw Zurek, Joe Siffleet, Colin Coughlin, Maggie Hussey, Raymond Mearns, Davoud Rastgou, Mahin Aminnia, Frank Gilhooley, David Doyle
Länge: 92 Minuten
Verleih: Neue Visionen
Kinostart: 27.11.2008

PRESSESTIMMEN:

...auf film-zeit.de


FILMKRITIK:

Nach seiner blutigen und expliziten Gewaltstudie „The Wind That Shakes The Barley“ über die Geschichte der Unabhängigkeit Irlands kehrt Ken Loach wieder auf sein Spezialgebiet zurück, dem Milieu der sozialen Ungerechtigkeiten in der britischen Arbeiterklasse. Diesmal führt er sein Publikum in die wackelige Welt der Zeitarbeiter und Tagelöhner, die aus Osteuropa nach London kommen und auf ein besseres Leben hoffen. 

Mittendrin im täglichen Job-Lotto steht Angie (Kierston Wareing), die just ihre Position bei einer Personalvermittlung verloren hat, nachdem sie von ihrem Chef sexuell belästigt wurde. Frustriert von den Abhängigkeiten des Angestelltendaseins gründet sie gemeinsam mit ihrer Freundin Rose (Juliet Ellis) eine eigene Agentur. Erste Erfolge stellen sich ein, doch schon bald bekommen die beiden die berüchtigten rauen Sitten der Branche zu spüren, als Geldgeber abtauchen, Arbeitnehmer ihre Mini-Löhne gewaltsam einfordern und illegale Einwanderer um Jobs aller Art betteln.  

Ken Loach skizziert diesen speziellen Jobmarkt mit allen seinen Nebenwirkungen. Fein beobachtet zeigt er Einzelschicksale von persischen Familien ohne Aufenthaltsgenehmigung, ukrainischen Fabrikarbeitern oder polnischen Tagelöhnern wie Karol (Leslaw Zurek), der sogar eine kurze Affäre mit Angie hat, ganz ohne den Hintergedanken, sich einen Job erschlafen zu können. 

Doch die kleinen Details sind nur Teil einer viel größeren Geschichte: Ken Loachs eigentliches Thema ist der psychologische Konflikt zwischen Existenzangst und materiellem Wohlstand. Mehr noch: Exemplarisch führt er vor, was Geld mit Menschen macht. Als Angie eine Unterkunft für eine große Gruppe von Zeitarbeitern sucht und das große finanzielle Geschäft vor Augen hat, meldet sie skrupellos eine geheime Wohnwagensiedlung mit illegalen Einwanderern bei der Polizei. 

Geschickt verhandelt der Film die Dringlichkeit von Humanismus in der komplexen Jobwelt und den persönlichen Wunsch, sich materiell abzusichern. Letztlich drehen sich die Figuren um das immer wiederkehrende Motiv: Darf man moralisch fragwürdig handeln, um das Geschäft am Laufen zu lassen? Ken Loach ist nicht so naiv, seine Geschichte auf eine größere, kapitalismuskritische Ebene zu projizieren. Sein Mikrokosmos der Ungerechtigkeit ist der britische Zeitarbeitsmarkt und nicht die billigen Sweat-Shops der Global Player in Asien und anderswo. Somit zeigt der Film lediglich die kruden Mechanismen in der Interaktion zwischen Europa und Osteuropa auf, die jenseits der Großkonzerne und in der undurchsichtigen Welt der Zeitarbeitsfirmen stattfindet. Diese schmecken bitter – aber das hat Ken Loach auch früher noch niemandem verheimlicht.

David Siems

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Ken Loach hat wieder zugeschlagen. Seine Sozialgeschichten sind berühmt. Doch dieses Mal stehen nicht auf der einen Seite die Bösen und auf der anderen die Guten. Die Verhältnisse sind komplexer, das Verhalten der handelnden Personen ist zweideutiger. Denn, so eine These von „It’s a free world“, der Verzicht auf frühere Tugenden und insbesondere der Kapitalismus sowie das Damoklesschwert, das Globalisierung genannt wird, haben viele Menschen charakterloser gemacht. Am in diesem Film vorexerzierten Beispiel heißt das: Großbritanniens Wirtschaft braucht dringend ausländische Arbeitskräfte, behandelt sie aber oft schlimmer als Tiere.

Angie ist eine energische, dem Arbeitermilieu entstammende junge Frau, das Kind rechtschaffener Eltern. Mit ihrer Arbeit hat sie kein Glück. In einer Personalagentur beschäftigt, die „Fremdarbeiter“ vermittelt, wird sie entlassen, weil sie die Anzüglichkeiten ihres Chefs abwehrt. Jetzt hat sie die Nase voll. Sie gründet mit ihrer Freundin Rosie eine eigene Agentur. Zuerst hat es den Anschein, als wolle sie vor allem in Arbeitslosigkeit und Not geratenen Menschen helfen. Und sie tut das auch.

Doch dann riecht sie, dass mit illegal vermittelten Osteuropäern, Irakern oder Afghanen, die nicht einmal Papiere besitzen, viel Geld zu machen ist. Angie lässt sich hineinziehen in die Geldgier, davon ausgehend, dass sofort ein anderer da wäre, wenn sie die Geschäfte nicht selbst machen würde. Sie wird quasi vom Zustand der heutigen Wirtschaftswelt verdorben. Zwar erleidet sie Rückschläge. Und einmal muss sie gar um ihr Kind Jamie fürchten. Doch fortan wird bei ihr die materielle Denkweise überwiegen.

Ken Loach hat den Durchblick. Eisenhart zeichnet er die Welt, wie sie zumindest in Teilen geworden ist. Es gibt nicht nur weiß oder schwarz, aber die Waage neigt sich mehr der Schwärze zu.

Regiemäßig ist alles in Ordnung. Auch die nötige Dramatik ist vorhanden. Aus mehreren hundert Kandidatinnen wurde Kierston Wareing ausgewählt, die die Angie verkörpert. Die Suche hat sich gelohnt. Die Schauspielerin war für die Rolle dieser Frau mit einer Mischung aus Energie, Hilfsbereitschaft, Rücksichtslosigkeit, Egoismus und insgesamt zweideutig werdender Persönlichkeit genau die richtige. Ihr zuzusehen und zuzuhören bleibt von Anfang bis Ende spannend.

Thomas Engel