Kirschblüten und rote Bohnen

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Vergänglichkeit und Hoffnung – das sind die großen Themen, denen Naomi Kawases ihren neuen Film widmet. Stilistisch brillant erzählt sie die Geschichte dreier einsamer Menschen, die einen Teil ihres Lebensweges miteinander verbringen und dabei ein klein wenig glücklicher werden: eine alte Frau, ein Snackbudenbetreiber und eine Schülerin.
Nach STILL THE WATER bringt die Regisseurin wieder einen Film ins Kino, der eine einfache Geschichte in stiller Schönheit erzählt. Dabei geht es auch um japanische Grundwerte, wie Gelassenheit und Ausdauer – und um die Fähigkeit zum Genuss, hier in Form der süßen Bohnenpaste, deren Herstellung langwierig und schwierig ist. Doch die Geduld lohnt sich. Und das gilt auch für diesen Film.

Webseite: www.neuevisionen.de

Originaltitel: An (Festivaltitel: Sweet Red Bean Paste)
Regie: Naomi Kawase
Drehbuch: Durian Sukegawa, Naomi Kawase (nach dem gleichnamigen Roman von Durian Sukegawa)
Darsteller: Kirin Kiki, Miki Mizuno, Masatoshi Nagase, Etsuko Ichihara, Kyara Uchida, Miyoko Asada
Kamera: Shigeki Akiyama
Musik: David Hadjadj
113 Minuten
Verleih: Neue Visionen
Kinostart: 31. Dezember 2015

AUSZEICHNUNGEN:

Cannes 2015, Un certain regard

FILMKRITIK:

Das Erzähltempo ist langsam, der Ton ist ruhig: Die Geschichte von Sentaro, Tokue und Wakana entfaltet sich nach und nach in all ihren Facetten. Sentaro betreibt eine ziemlich schäbige Imbisshütte, wo er gefüllte Pfannkuchen verkauft: Doriyaki – die Füllung besteht aus einer süßen Paste, deren Hauptbestandteil rote Bohnen sind, eigentlich ein beliebter Snack, aber bei Sentaro ist für gewöhnlich nicht viel los. Er macht seine Arbeit pflichtbewusst, jedoch ohne Spaß an der Sache. Die kleinen Pfannkuchen backt er mit wenig Enthusiasmus, und die rote Paste kauft er fertig im Großhandel. Die stille Schülerin Wakana ist Stammkundin und bekommt von ihm regelmäßig eine Tüte mit den misslungenen Doriyaki. Später wird man erfahren, dass Sentaro hoch verschuldet ist und die Bude seinen Gläubigern gehört, für die er hier einen ungeliebten Job macht. Eines Tages, die Kirschen stehen gerade in voller Blüte, kommt Tokue, eine freundliche alte Frau, an Sentaros Stand und bietet ihre Hilfe an. Nach längerer Überlegung willigt Sentaro ein und lässt sie zur Probe Bohnenpaste machen. Das dauert viele Stunden und erfordert nicht nur unglaublich viel Aufwand, sondern auch jede Menge Geduld. Doch Tokue geht ganz in ihrer Arbeit auf. Als es endlich ans Probieren geht, ist Sendaro begeistert: Tokues Paste ist absolute Weltklasse. Sie übernimmt ab sofort die Pastenproduktion, und Sentaros Geschäft nimmt unerwarteten Aufschwung. Der einsame Mann und die alte Frau freunden sich sogar ein wenig an. Doch es dauert nicht lange, und Sentaro muss sich entscheiden, ob Tokue weiter bei ihm arbeiten kann.
 
Eine leise, aber deutlich spürbare Melancholie liegt über dem Film. Die Helden sind einsame Menschen, von denen es scheint, als hätten sie es akzeptiert, allein zu sein und damit unverstanden. Für kurze Zeit siegt der Optimismus: Beinahe fröhlich sind die Passagen, in denen Sentaro und Tokue zusammenarbeiten. Die alte Frau blüht ebenso auf wie Sentaro, ein Mann ohne Privatleben, der normalerweise gleichmütig, schweigend und diszipliniert arbeitet. Die Kirschblüte hält den Film wie eine Klammer zusammen: Sie symbolisiert die schnelle Vergänglichkeit des Schönen ebenso wie die Hoffnung darauf, dass sich Geduld lohnt, weil es eine neue Blüte gibt. Das gilt nicht nur für Kirschbäume, sondern auch für Menschen, könnte Naomi Kawase sagen. Wenn die drei Helden der Geschichte einen Teil ihres Lebens zusammen verbringen, dann ist das schon eine große Leistung, denn sie haben ihre Einsamkeit aufgegeben und sind kurz miteinander aufgeblüht. Es hat sich etwas geändert – zum Besseren, und das Gute könnte zurückkommen.
 
Naomi Kawase nutzt die Sprache der Dinge. Lange Passagen zeigen die Herstellung der roten Bohnenpaste als nahezu meditative Handlung, ebenso die Arbeitsgänge beim Backen der Pfannkuchen. Mit der gleichen Ruhe und Sorgfalt studiert sie die Gesichter der Menschen. Ihre Protagonisten sind eher Helden wider Willen – sie scheinen nicht sehr aktiv zu sein, so zurückhaltend, wie sie meistens sind. In Wahrheit aber geht es ihnen wie der süßen Paste: Um zu reifen und gut zu werden, ist Geduld notwendig und vor allem das Wissen um die Notwendigkeit von Geduld. So langsam wie das Kochen der süßen Paste ist auch die Entwicklung der Figuren. Schon zu Beginn ist zu spüren: Sentaro und Tokue (wunderbar: Kirin Kiki) haben ihre Geheimnisse, die sich nach und nach offenbaren. Auch das Schulmädchen Wakana trägt an ihrem Schicksal. Masatoshi Nagase spielt den unglücklichen Sentaro als beinahe gebrochenen Mann, der mit leisem Schmerz und offenkundigem Pflichtgefühl irgendwie sein Leben bewältigt. Kirin Kiki, eine der bekanntesten japanischen Schauspielerinnen, zeigt als Tokue eine unglaubliche und sehr berührende Leistung. Sie spielt geheimnisvoll, liebenswert und manchmal mit der unbeschwerten Frische einer jungen Frau. Mit ihrem Lachen könnte sie vermutlich ganz allein die Kirschbäume zur Blüte bringen. Kyara Ushida als Wakana spielt mit viel Aufmerksamkeit und guter Präsenz. Sie hat eine eher undankbare Rolle als Dritte im Bunde, die wenig zur Handlung beitragen darf.
 
Die poetische Kraft dieses Films ist gewaltig, sofern man bereit ist, sich auf eine Handlung einzulassen, deren Geheimnisse sich nur sehr langsam offenbaren und deren Dramatik sich erst im Verlauf steigert. Einerseits scheint der Film stark in der japanischen Kultur verwurzelt, andererseits wirkt der Soundtrack eher europäisch-westlich – nicht nur ein Zugeständnis an ein internationales Publikum, sondern auch ein Symbol für den modernen japanischen Film, dessen künstlerische und kulturelle Besonderheiten immer noch über besondere Zauberkraft verfügen.
 
Gaby Sikorski