La Nana – Die Perle

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„Sie gehört mehr oder weniger zur Familie“ lautet das Motto dieses wunderbaren Porträts über ein chilenisches Hausmädchen, das nach Jahrzehnten zum ersten Mal ihrem Alltag entflieht. Sebastián Silvas humorvolle und teils bitterböse Charakterstudie wurde im vergangenen Jahr auf dem Sundance Festival als bester Film ausgezeichnet.

Webseite: www.arsenalfilm.de

Chile 2009
Regie & Buch: Sebastián Silva
Darsteller: Catalina Saavedra, Claudia Celedón, Aljandro Goic, Andrea García-Huidobro, Mariana Loyola, Agustín Silva, Darok Orellana, Sebastián La Rivera
Länge: 94 Minuten
Verleih: Arsenal
Kinostart: 17.6.2010
 

PRESSESTIMMEN:

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FILMKRITIK:

Seit 23 Jahren erledigt Raquel (Catalina Saavedra) ihren täglichen Dienstmädchen-Job in schnöder Routine. In schwarzer Uniform putzt, schrubbt und staubsaugt sie im vornehmen Haus einer Oberschichtfamilie in Santiago de Chile und ist fast so etwas wie ein reguläres Mitglied der fünfköpfigen Valdez-Sippschaft, die das edle Anwesen bewohnt. Am Ende des Flures hat sie ein winziges, vielleicht zehn Quadratmeter großes Zimmer, das ihr eigenes „Zuhause“ ist. Längst ist die 41-Jährige zu einer Art Ersatzmutter für die drei Kinder geworden, die ihr Hausmädchen zum Geburtstag mit einem Geburtstagskuchen überraschen und ihr mit einer Mischung aus höflicher Demut und Jähzornigkeit begegnen – wie sich pubertierende Kinder nun mal gegenüber ihren Erziehungsberechtigten verhalten.

Doch Raquel wankt: Gepeinigt von chronischer Migräne und Schwindelanfällen schluckt sie Unmengen von Tabletten. Mehr und mehr wird ihr bewusst, welcher Gedanke in all den Jahren in ihr schlummerte: Obwohl sie mit den Reichen unter einem Dach lebt, liegen Welten zwischen ihrer kleinen Welt und der Zufriedenheit ihrer Arbeitgeber, die sich im materiellen Wohlstand und Glück sonnen. Als Raquel zum ersten Mal ernsthaft erkrankt und zur Hilfe ein zweites Hausmädchen eingestellt wird, schlagen ihre Lebenszweifel in Panik um. Die neue Konkurrenz muss entsorgt werden wie die Essenreste auf den schmutzigen Tellern. Um jeden Preis.

Der 31-jährige Regisseur Sebastián Silva erzählt seine autobiografisch geprägte Geschichte über die verlorenen Träume eines Dienstmädchens mit erstaunlicher Authentizität. Seine Heldin verfolgt er per Handkamera durch die schicken Räume des mehrstöckigen Hauses, bis nach draußen zum Pool, und verzichtet dabei komplett auf den Einsatz von künstlichem Licht. Sein subtiles Porträt ist gleichzeitig auch eine Hommage an die zwei Dienstmädchen, die er über viele Jahre im eigenen Elternhaus erlebte, deren Alltag „die emotionale Intelligenz“ zerstören können, wie er selbst sagt. In der Tat ist seine Protagonistin wie in einem goldenen Käfig eingesperrt, die von Catalina Saavedra mit großer Bravour gespielt wird: Raquels Augen suchen ständig nach einem Ausweg, blicken aber gleichzeitig so müde und erschöpft aus einem Gesicht, bei dem man sich fragt, wann es zum letzten Mal so etwas wie Freude oder Zufriedenheit zum Ausdruck gebracht hat.

Ohnehin verhandelt der Regisseur sehr geschickt die zwei Welten seiner Figuren: Gegen die Lebenszweifel von Raquel stellt er die kindlichen Macken der bourgeoisen Familie, deren Familienoberhaupt sich aus Konflikten heraushält, indem er entweder heimlich Golfspielen geht oder sich in der Arbeit für ein albernes Modellbauschiff verkriecht. „La Nana – Die Perle“ ist somit auch die Dokumentation über ein Stück lateinamerikanischen Lebensalltag, in der desillusionierte Dienstmädchen auf die Dekadenz gelangweilter Oberschichtler treffen.

David Siems

Chile. Eine großbürgerliche und vielköpfige Familie. Die Mutter Pilar Valdez, der Vater Mundo und ein paar Jungen und Mädchen. Die Seele des Ganzen, die „Perle“, ist Raquel, Haushälterin, Dienstmädchen.

Doch mit dem Charakter und dem Verhalten Raquels ist das so eine Sache. Sie ist schweigsam, empfindlich, mürrisch, offenbar komplexbeladen wenn auch äußerst arbeitsam. Über 20 Jahre macht sie schon den Haushalt der Familie Valdez. Zum Teil ist ihr manchmal sonderliches Benehmen auf ihren labilen Gesundheitszustand zurückzuführen.

Im Haushalt duldet sie niemanden neben sich. Als Pilar zur Unterstützung Raquels die junge Mercedes aus Peru mit anstellt, wird sie von der Platzinhaberin hinausgeekelt. Das gleiche passiert Sonja, die im Auftrag der Großmutter bei den Valdez aushelfen soll.

Anders ist es mit dem nächsten Versuch eines zweiten Dienstmädchens, mit Lucy. Die ist selbstbewusst, modern, freundschaftlich, fröhlich – das Gegenteil von Raquel. Ihre Art wirkt. Langsam kommen sich die beiden Frauen näher. Raquel wird von Lucy beispielsweise zum Weihnachtsfest ihrer Familie eingeladen. Sie hat von Lucy gelernt. Wahrscheinlich ist ihr Leben in Zukunft besser.

Zum Teil ist Raquels mangelnde Entfaltung auf die soziale Distanz – in Südamerika vermutlich sehr viel größer als bei uns – zurückzuführen: hier Großbürgertum, dort Dienstbotentum. Das wird im Film sehr deutlich. Lucy ist da Raquel eine große Hilfe.

Viel an Handlung passiert nicht. Der Regisseur sagt, das meiste davon habe sich in seinem Elternhaus so zugetragen.

„Nana“ ist aus zwei Gründen beachtenswert, und für die gab es auch Preise: Die Exaktheit und Wahrhaftigkeit, mit der dieses Familienleben geschildert wird, ist fabelhaft. Und die künstlerische Disziplin, mit der Catalina Saavedra die Raquel spielt, ist erstaunlich.

Thomas Engel