Lara

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Keine leichte Hypothek, nach einem Coup wie „Oh Boy“ den nächsten Film zu wagen. Sieben Jahre ließ Jan-Ole Gerster sich Zeit, bevor er mit diesem Mutter-Sohn-Drama seinen Zweitling präsentiert. „Boy“-Bube Tom Schilling ist wieder mit dabei, abermals schwer sensibel. Als nervöser Pianist Viktor steht er vor der Premiere seines großen Konzertes. Die besorgte Mama (Glanzrolle für Caroline Harfouch!) kauft vorsorglich die Karten auf. Die Fassade ihrer Fürsorglichkeit bekommt jedoch Risse. Ist sie so eiskalt, wie einstige Kollegen behaupten? So unbarmherzig ehrgeizig, wie der Ex-Ehemann klagt? Je mehr das Puzzle dieser Lara Jenkins sich zusammensetzt, desto geheimnisvoller gerät dieses Psychogramm. Atmosphärisch dicht, visuell verspielt sowie bestens besetzt bis in die Nebenrollen, entsteht ein packend intensives Drama, das ein Klassiker-Thema mit erstaunlicher Leichtigkeit samt gelungener Wendungen präsentiert. „Oh Mother!“ wäre durchaus ein hübscher Titel - das hätte die Hypothek indes noch größer gemacht.

Webseite: kinofinder.studiocanal.de/lara

D 2019
Regie: Jan-Ole Gerster
Darsteller: Corinna Harfouch, Tom Schilling, André Jung, Volkmar Kleinert, Rainer Bock, Gudrun Ritter
Filmlänge: 100 Minuten
Verleih: Studiocanal
Kinostart: 7.11.2019

FILMKRITIK:

Gleich der Auftakt gerät geheimnisvoll. Unruhig geht die fahrige Heldin in ihre Wohnung im Hochhaus umher. Sie öffnet den Vorhang, das Fenster, holt einen Stuhl - man ahnt nichts Gutes. Nach dem Vorspann steht klingelnd die Staatsmacht vor der Tür. Kaum ist die seltsame Bitte jener leicht schrulligen zwei Polizisten erfüllt, hebt Lara Jenkins ihre gesamten Ersparnisse von der Bank ab.
 
Just an ihrem 60sten Geburtstag, gibt Sohn Viktor ein großes Klavierkonzert. Um für ein volles Haus zu sorgen, kauft die Mama die verbliebenen 22 Karten kurzerhand auf, die sie an Freunde und Fremde verschenken wird. Die Karriere ihres Kindes war Lara schon immer wichtig. Vielleicht zu wichtig, weil sie selbst ihren Traum der gefeierten Pianistin einst aufgeben musste. Umso mehr will sie den Erfolg für Viktor um jeden Preis. Der krankhafte Ehrgeiz hat Spuren hinterlassen. Ehemann Paul (Rainer Bock) hat sich längst abgewendet, der sensible Sohn zog zur Großmutter aufs Land. Unter Kollegen sorgte die Härte der pensionierten Beamtin gleichfalls für frostige Stimmung. „Hat es Sie nie gestört, dass man Sie nie ausstehen konnte?“, bekommt sie von ihrer Nachfolgerin bei einem Besuch in der Behörde zu hören.
 
Die vielen falsch gestellten Weichen in ihrem Leben rächen sich mit voller Wucht an diesem Geburtstag. Telefonanrufe lässt Viktor unbeantwortet, nicht einmal eingeladen hat er die Mutter zum großen Konzert. Der geduldige Ex-Gatte fordert ungewohnt rigoros, den Sohn endlich in Ruhe zu lassen. Die Großmutter verweigert die mitgebrachte Torte: „Im Kühlschrank ist kein Platz!“. Allein ein freundlicher Nachbar zeigt sich liebevoll um die Jubilarin bemüht. Lara scheint von alledem seltsam unbeeindruckt. Ein Hauch von Verzweiflung schimmert zwar immer wieder kurz über ihr Gesicht. Doch dann geht es wieder so unbarmherzig weiter, wie gewohnt. Das zufällige Treffen mit einem dreizehnjährigen Klavierschüler wird der eingeschüchterte Knirps so schnell kaum vergessen. Ebenso wenig wie Viktors Freundin, die mit einer wahrlich perfiden Racheaktion in einem Café abgestraft wird. Als bitterer Höhepunkt schließlich das Gespräch mit dem Sohn im Garten der Oma. „Klug und eloquent komponiert“ lobt die Mutter dessen Komposition kurz. Um danach etwas zu sagen, das den Sohn völlig aus der Bahn wirft. Das Konzert rückt immer näher. Dann erscheint auch noch der einstige Klavierlehrer von Lara im Saal. Ausgang ungewiss. Überraschungen garantiert.
 
Ähnlich à la „Oh Boy“ setzt Jan-Ole Gerster auf diverse Episoden an einem einzigen Tag, die wie ein Kaleidoskop das überraschende Bild ergeben. Auch hier wird die melancholische Grundierung regelmäßig mit etlichen Komik-Farbtupfern versehen, sorgen absurder Humor und feinsinnige Situationskomik für die notwendige Entspannung. Tom Tykwers vielfach preisgekrönter Haus-Kameramann Frank Griebe zeigt mit visueller Originalität einmal mehr, dass er zu den besten seines Faches gehört. Raffinierter verspiegelt lässt sich Kaufhaus-Shoppen kaum inszenieren, selbst der triste Hansa-Platz von Berlin bekommt ein fast attraktives Antlitz. Überhaupt glänzt die Hauptstadt mit selten auf der Leinwand zu sehenden Schauplätzen in eindrucksvollem Farbkostüm - „Oh Berlin“.
 
Die Besetzung fällt bis in kleine Nebenrollen mit großartigen Darstellern aus. Der Part von Tom Schilling ist diesmal kleiner geraten, gleichwohl überzeugt er charismatisch als Sensibelchen mit Trotzpotenzial. Die Hauptlast trägt klar Corinna Harfouch, die diese Traumrolle mit scheinbarer Mühelosigkeit regelrecht zelebriert. Bisweilen erinnert die Harfouch mit ihrem eiskalten Auftreten, der eleganten Kleidung und der minimalistischen Mimik an die Huppert in „Die Klavierspielerin“. Hier wie dort gelingt das schwierige Kunststück, eine wenig sympathische Figur für das Publikum interessant werden zu lassen, fast Empathie zu entwickeln. Was steckt hinter dieser harten Schale? Woher rührt die schroffe Unbarmherzigkeit? Nur andeutungsweise wird mehrfach davon gemurmelt, dass es Lara jetzt wieder besser gehe. „Wir möchten so viel: Haben. Sein. Und gelten. Dass einer alles hat: das ist selten“, wusste schon Tucholsky. Lara wusste das wohl lange nicht. Nun bekommt sie diese Lerneinheit vielleicht als Geburtstagsgeschenk. Erfreulich, dass Jan-Ole Gerster mit dem Erwartungsdruck besser umgehen konnte als seine Protagonisten. Da sollte es bis zum dritten Streich nicht ganz so lange dauern.
 
Dieter Oßwald