Linoleum

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Spoilern geht nicht, das ist klar. Über Colin Wests „Linoleum“ zu schreiben, ohne zu spoilern, ohne über die letzten zehn Minuten zu schreiben ist allerdings sehr schwierig. Denn was der junge amerikanische Regisseur in seinem zweiten Film macht, ist ambitioniert: Was über lange Zeit wie ein sehr typischer Indie-Film wirkt, wird auf einmal zu viel mehr, wird auf einmal zu etwas sehr Besonderem, auf das man sich einlassen sollte.

USA 2023
Regie & Buch: Colin West
Darsteller: Jim Gaffigan, Rhea Seehorn, Katelyn Nacon, Gabriel Rush, Amy Hargreaves, West Duchovny, Elisabeth Henry, Roger Hendricks Simon

Länge: 101 Minuten
Verleih: Camino Filmverleih
Kinostart: 15. Februar 2024

FILMKRITIK:

In einer beschaulichen amerikanischen Kleinstadt fallen plötzlich Objekte vom Himmel: Zuerst eine knallrote Corvette, ein paar Tage später eine Raumkapsel. Seltsam, denkt sich auch Cameron Edwin (Jim Gaffigan) als das Auto neben ihm landet und ein Mann namens Kent Armstrong (ebenfalls gespielt von Jim Gaffigan) aus dem Wrack krabbelt. Eben dieser Kent wird einige Tage später Camerons Fernsehsendung „Above & Beyond“ übernehmen, eine skurrile Wissenschaftssendung, die sich Cameron einst mit seiner Frau Erin (Rhea Seehorn) ausgedacht hatte. Gemeinsam hatte das an Astronomie und Raumfahrt interessierte Paar mit selbstgemachten Modellen und viel Phantasie die Welt der Wissenschaft erklärt.

Doch das ist lange her, Erin arbeitet inzwischen in einem Museum und hat die Scheidung eingereicht, was die Tochter Nora (Katelyn Nacon) noch nicht ahnt. Diese ist in ihrer High School eine Außenseiterin, fragt sich, in welche Richtung ihr Leben (und ihre Sexualität) laufen wird und lernt Marc (Gabriel Rush) kennen, einen neuen Schüler, der ausgerechnet Kents Sohn ist.

Und als wäre all das nicht genug, spielen auch noch Camerons alternder, an zunehmendem Gedächtnisverlust leidender Vater Marc (Roger Hendricks Simon) eine Rolle, dazu eine mysteriöse ältere Frau, die immer wieder auf der Wiese steht und schließlich ein Doktor (Tony Shalhoub), der nur scheinbar rätselhaftes über den menschlichen Geist erzählt, das im Nachhinein sehr genau erklärt, was dieser Film sein will.

Was genau der Doktor sagt, soll natürlich nicht verraten werden, die expliziten Fährten, die Colin West in seinem zweiten Spielfilm „Linoleum“ legt, muss man schon selber entdecken. Sofern man nicht von der Atmosphäre eines Films eingelullt wird, der über weite Strecken kaum mehr zu sein scheint als ein Film über einen Mann in der Midlife-Crisis, ein Mann, der an sich ein gelungenes Leben führt, aber sich doch immer wieder fragt, ob nicht doch mehr möglich gewesen wäre.

Hätte er nicht mehr aus sich machen können, hätte er seine Träume nicht mit größerer Vehemenz verfolgen sollen? Dass diesem Mann, dem etwas unbeholfenen Cameron, mit Kent ein scheinbarer Doppelgänger gegenübersteht, der jünger, attraktiver und erfolgreicher zu sein scheint, deutet auf eine einfache moralische Konfrontation hin, die zum Glück ausbleibt.

Viele Fährten legt Colin West, viele Bälle bringt er ins Spiel, Figuren und Motive, die die zentrale Thematik variieren. All das ist nett anzusehen, würde „Linoleum“ allerdings nicht bemerkenswert machen, wenn nicht die letzten zehn Minuten wären.

Welchen narrativen Kniff sich Colin West hier ausgedacht hat, wie er Figuren und Themen auf bewegende, berührende Weise zusammenführt ist spektakulär. Ja, es ist immer etwas unbefriedigend zu hören: Dranbleiben lohnt sich, in diesem Falle stimmt es aber wirklich. Ganz ehrlich!

 

Michael Meyns