Mary und die Blume der Hexen

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Auf einem Waldspaziergang entdeckt Mary Smith eine geheimnisvolle Blume. Von der Kraft der Blüte gehen magische Kräfte aus, die dem jungen Mädchen eine Reise zur Magie-Universität Endor ermöglichen, wo sich die Zauberkraft als schauriges, schönes und gefährliches Spektakel offenbart. Der erste Spielfilm des kürzlich gegründeten japanischen Studio Ponoc strahlt im Detailreichtum seiner Animationen die Vitalität und Lebensfreude aus, die auch die Filme des berühmten Studio Ghibli auszeichnen. Hiromasa Yonebayashi führt in seiner Anime-Adaption von Mary Stewarts Roman „The Little Broomstick“ das humanistische Ethos der großen Ghibli-Meister Hayao Miyazaki und Isao Takahata weiter.

Webseite: peppermint-anime.de

Japan 2017
Regie: Hiromasa Yonebayashi
Buch: Hiromasa Yonebayashi, Riko Sakaguchi
Sprecher: Hana Sugisaki, Ryûnosuke Kamiki, Hikari Mitsushima, Shinobu Ôtake
Länge: 103 Minuten
Verleih: Peppermint Anime
Kinostart: 13. September 2018

FILMKRITIK:

Mary Smith ist ein Mädchen, das sich in ihren Aufgaben verliert. Mit gewaltigem Enthusiasmus lebt Mary in den Tag hinein und da dieser Tag während der Ferienzeit nicht von den Schulzeiten bestimmt wird, sucht das kleine Mädchen auf dem Anwesen ihrer Tante Charlotte nach Aufgaben. Als wilder Tollpatsch ist sie dabei weder der Haushälterin noch dem grantig-gütigem Gärtner Zebedee eine große Hilfe. So verliert sich Mary in den Wäldern, die das Anwesen einschließen.
 
Sich in etwas verlieren, bedeutet im Anime eben nicht folgenlos in einen Tagtraum abzudriften, der so schnell wie er kommt wieder vergessen ist. Vielmehr scheint sich mit der Fantasie des Tagtraums eine ganz eigene Welt zu erschließen. Die Welt, die sich Mary bei einem Picknick am Waldrand eröffnet, ist die Welt der Hexen. Eine fremdartige Blume, die inmitten der ansonsten völlig brachen Lichtung im schillerndsten Blau erblüht, erweckt sie zum Leben: Plötzlich sprudelt das Wasser eines Brunnens in magisch manipulierten Wellen über, die Katzen des Nachbarjungen entpuppen sich als kleine Hausgeister und ein zerbrochener Reisigbesen lernt zu fliegen. Eben dieser Besen, der Mary Stewarts Romanvorlage „The Little Broomstick“ entstammt, führt nun die gezeichnete Mary zur Magie-Universität Endor, wo das rothaarige Mädchen als angeblich hochtalentierte Hexe empfangen wird. Doch die Macht der Magie, die Mary von den Blüten der Blume verliehen wurde, entpuppt sich schnell als beeindruckende Kraft. An der Universität werden nicht nur Zauber gelehrt, die Bauchschmerzen lindern oder unsichtbar machen. Auch mit Verwandlungszaubern wird hier experimentiert – an lebendigen Tieren.
 
So bringt die Magie schaurige und schöne Wunder hervor, die Hiromasa Yonebayashi mit der gleichen Detailfülle ausschmückt, die auch Marys Alltag belebt. In eben dieser Gleichberechtigung zwischen dem Fantastischen und dem Weltlichen liegt die große Gefahr für Marys Freunde und Familie, die ohne ihr Wissen Teil des Abenteuers werden – und eben auch die große Stärke von „Mary und die Blume der Hexen“. Yonebayashis Film knüpft damit ziemlich direkt an seine letzte Arbeit für das Studio Ghibli, „Arrietty – Die wundersame Welt der Borger“, an. Wieder sind das Fantastische und das Weltliche nicht augenscheinlich getrennt, sondern gehen im Fluss der Animation als gleichberechtigte Lebensräume und Sozialsysteme ineinander über.
 
Dieser erste Film des kürzlich gegründeten Studio Ponoc scheint sich mit Yonebayashi im Regiestuhl ganz in die Tradition des legendären Animationsstudios Ghibli einzureihen. Das vom ehemaligen Ghibli-Produzent Yoshiaki Nishimuraneu geleitete und von einer Vielzahl ehemaliger Ghibli-Animatoren besetzte Studio Ponoc führt mit diesem Debüt dabei nicht nur den Stil, sondern auch das Ethos der großen Ghibli-Meister Hayao Miyazaki und Isao Takahata fort. Die magische Welt, in die Mary vom spontan erwachten Reisigbesen gebracht wird, scheint bis in jedes einzelne Blatt, jeden winzigen Zweig und jede Fellfaser nicht nur über ein Leben, sondern auch ein Seelenleben zu verfügen. Selbst Dingen, die von der Natur nicht für das Leben vorgesehen waren, wird selbiges von den Zaubern der Hexen eingehaucht. So drängt sich auf der Leinwand alles zu einer mannigfaltigen Welt zusammen, die nicht durch den rigoros getakteten Rhythmus der westlichen Animationsfilme strukturiert wird, sondern in der zeitlichen Logik eines Tagtraums existiert. Yonebayashi hält diesen Rhythmus und lässt immer genug Zeit, um sich dort zu verlieren, wo Vitalität und Lebensfreude hinter dem Zeichenstrich fast wieder so unumschränkt herrschen, wie in der Ära der großen Meister des Studio Ghibli.
 
Karsten Munt