Mein Sohn

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Die wohl größte Aufmerksamkeit auf Lena Stahls Langfilmdebüt „Mein Sohn“ dürfte die Hauptdarstellerin Anke Engelke auf sich ziehen. Die bislang vorwiegend für ihre Comedy- und Synchronrollen bekannte Komikerin zeigt sich in dem dramatischen Roadmovie von einer Seite, wie wir sie bislang noch nicht kennen. Und wir wollen unbedingt mehr davon sehen!

Website: https://www.warnerbros.de/de-de/filme/mein-sohn

Deutschland 2021
Regie: Lena Stahl
Darsteller:innen: Anke Engelke, Jonas Dassler, Hannah Herzsprung, Karsten Mielke, Daniel Zillmann, Max Hopp, Peter Jordan
Verleih: Warner Bros.
Länge 87 Min.
Start: 18.11.2021

FILMKRITIK:

Eine Sekunde der Unachtsamkeit, ein Knall und Jasons Leben als angehender Profisportler ist Geschichte. Ein Autounfall wirft den hoffnungsvollen Skateboarder völlig aus der Bahn. Infolgedessen empfehlen ihm die Ärzte einen Aufenthalt in einer Reha-Klinik. Seine Mutter Marlene (Anke Engelke) bemüht sich rasch um einen Platz in der Schweiz. Hier sollen die Genesungschancen besonders gut sein. Doch Jason (Jonas Dassler) ist alles andere als begeistert von der Idee, dorthin zu reisen und noch dazu mit seiner Mutter zusammen. Die beiden haben sich auf dem Weg zu Jonas‘ Erwachsenwerden irgendwann aus den Augen verloren, schwimmen auf unterschiedlichen Wellen, kommen nicht mehr aneinander heran. Dabei will eigentlich jeder nur das Beste für den jeweils anderen. Ob dieser Roadtrip wider Willen die beiden wieder zusammenführt?

Die oben angegebene Inhaltsangabe spiegelt eins zu eins den Film wider. Die Erwartungen, die das Publikum dadurch an den Film stellen dürfte, kann dieser Plot trotzdem nicht erfüllen. Und das meinen wir in diesem Fall ausschließlich positiv, denn „Mein Sohn“, das Langfilmdebüt von Regisseurin und Autorin Lena Stahl, ist keiner dieser Filme über zwei grundverschiedene, sich nicht (mehr) verstehende Parteien, die im Zuge eines Schicksalsschlages wieder zusammenwachsen, weil es ihnen schlicht nicht möglich ist, einander aus dem Weg zu gehen. Wie es während eines Roadtrips in der Regel üblich ist. Es geht nicht um das Aufeinanderprallen größtmöglicher Unterschiede. Es gibt nicht das eine, sämtliche Vorkommnisse und Missverständnisse der Vergangenheit aus dem Weg schaffende Gespräch, nachdem beide wieder miteinander harmonieren. Denn Lena Stahl, die mit ihrer Arbeit Lust auf Karoline Herfurths dritten Spielfilm „Wunderschön“ macht, für den sie ebenfalls das Skript verfasste, fokussiert keinen klassischen Konflikt, sondern ein Gefühl; nämlich das, in seinem eigenen Leben verloren neben sich zu stehen und dabei zuzusehen, wie man eigentlich alles richtig macht und trotzdem scheitert.

Anke Engelke („LOL“), die schon nach wenigen Sekunden vollständig mit ihrer Rolle verschmilzt, verkörpert nicht die klassische „Helikopter-Mutter“, wie es der Plot anklingen lässt. Sie ist fürsorglich, aber nicht überfürsorglich und will wirklich nur das Beste für ihren Sohn, ohne sich ihm aufzudrängen. Dass ihr zwanzigjähriger Sohn Jason sie dennoch als eine solche wahrnimmt, liegt in seinem rebellischen Charakter verborgen. In seinem Drang, es sich jeden Tag selbst zu beweisen und dafür jedwedes Gefühl für Risiken auszuschalten. Da hat seine Mutter einfach keinen Platz (mehr). Damit stößt er seine um engen Kontakt bemühte Mutter zwar vor den Kopf, ein Fehlverhalten lässt sich ihm dadurch aber kaum anlasten. Genauso wenig wie Marlene ihres. Und so begehen weder Mutter noch Sohn klassische Kommunikationsfehler. Sie befinden sich zum Zeitpunkt des Films einfach nur auf unterschiedlichen Wellenlängen. Das Gefühl, dabei zuzusehen, wie sich zwei gegensätzliche Figuren in verschiedenen Grauzonen aufeinander zu bewegen, hat einen viel größeren Reiz als das zur Genüge heraufbeschworene Erzählmotiv zwei gegensätzlicher Pole, die sich irgendwann trotzdem zusammenraufen.

Entsprechend wenig ist „Mein Sohn“ eine Tragikomödie („Vincent will Meer“, „Gott, du kannst ein Arsch sein“ etc. würden hier unter anderer Regie- und Autorinnenhand vermutlich grüßen), sondern ein klassisches Drama, das von Selbstfindung erzählt. Beiden Hauptfiguren ermöglicht die Reise in die Schweiz die Rückbesinnung auf sich selbst. Erst dann können sie sich auch wieder gegenseitig aufeinander einlassen. Da kommt einem automatisch der Ratgebertipp „Erst, wenn du dich selbst liebst, können dich auch andere lieben.“ in den Sinn. Doch in dem Moment, als Marlene und Jason endlich anfangen, in dieselbe Richtung zu blicken, ist „Mein Sohn“ auch schon vorbei. Ohne die große Aussprache, ohne wahlweise dramatische oder amüsante Roadmovie-Stationen, die die beiden zusammenschweißen. Trotzdem fühlt man das Happy End, denn was Mutter und Sohn hier über sich lernen, lernen sie auch für den jeweils anderen. Dass all das so hervorragend funktioniert und „Mein Sohn“ zu einem der besten deutschen Filme des Jahres macht, liegt auch an den beeindruckend authentischen Dialogen. Hier dürfen die Schauspielerinnen und Schauspieler abkürzen, Silben verschlucken, einander unterbrechen und in unterschiedlichen Lautstärken durcheinanderreden. Da merkt man plötzlich, wie statisch viele Dialoge in hiesigen Kinogefilden nach wie vor sind.

Antje Wessels