Memory Hotel

Zur Erschaffung von Kunst sind manchmal ein extrem langer Atem und viel Durchhaltevermögen notwendig. Der Berliner Puppenspieler und Animationskünstler Heinrich Sabl dürfte darin einen neuen Rekord aufgestellt haben: Mit den Dreharbeiten für seinen faszinierenden Arthouse-Animationsfilm „Memory Hotel“ begann er 1999. Nach 26 Jahren minutiöser Kleinarbeit kommt nun die in klassischer Stop-Motion-Technik und mit analoger Kamera realisierte Geschichtsparabel in die Kinos.

 

Über den Film

Originaltitel

Memory Hotel

Deutscher Titel

Memory Hotel

Produktionsland

DEU

Filmdauer

100 min

Produktionsjahr

2024

Regisseur

Sabl, Heinrich

Verleih

Neue Visionen Filmverleih GmbH

Starttermin

30.10.2025

 

1945. Die kleine Sophie versucht mit ihren Eltern aus dem zusammenbrechenden Deutschland zu flüchten. Unterwegs treffen sie in einem Hotel auf den Nazi Scharf und den Hitlerjungen Beckmann. Als das Hotel von der Roten Armee eingenommen wird, kommen Sophies Eltern durch Scharf und den Sowjetsoldaten Wassili ums Leben. Sophie verliert dabei ihr Gedächtnis. Fortan sind die vier Überlebenden auf surreale Weise an das Hotel gekettet, wo Sophie als Köchin für die in der DDR stationierten Soldaten der Roten Armee zu arbeiten beginnt. Die Jahre vergehen, Wassili verliebt sich in Sophie, und Scharf stellt ihr nach, doch als Sophie auf den im Keller dahinvegetierenden Beckmann trifft, kommt ihre Erinnerung langsam zurück…

Vieles an diesem Film gräbt sich ins Gedächtnis ein und schafft einen bleibenden Eindruck. Zuallererst ist da der unglaublich fantasievolle Einsatz der Stop-Motion-Technik, der immer wieder für Erstaunen und Faszination sorgt. Da „Memory Hotel“ im Wesentlichen lediglich einen einzigen Schauplatz – das verwunschen wirkende Hotel – hat, ist der Film auch so etwas wie ein Kammerspiel. Doch durch die überraschenden Bilder und Blickwinkel, die der Animationsfilmer und Puppenspieler Heinrich Sabl gefunden hat, geht der Spielraum immer wieder ganz weit auf, als könnte man für einen kurzen Moment in die Köpfe und Seelen der handelnden Figuren blicken. Und im Laufe der Zeit entwickelt das Hotel, in dem immer neue Gänge, Räume und Verliese zu wachsen scheinen, ein eigenes Leben. Obwohl „Memory Hotel“ ein Puppenfilm ist, hat er nichts Niedliches, und selbstverständlich ist auch das Hotel daher kein Puppenhaus, sondern eher ein Höllenschlund, ein metaphorischer Ort des Kommens und des Gehens…und des Gefangenseins. Ein Ort, der sich dauernd verändert.

Um 40 Jahre (ost)deutsche Geschichte mit vier Personen auf engstem Raum zu erzählen, greift Sabl auf zahlreiche Metaphern und Symbole zurück. Das wirkt nicht immer ganz schlüssig, zumal es auch einige schwer verständliche Ab- und Umwege gibt, die manchmal im Nirgendwo steckenzubleiben scheinen. Dabei wird die Stop-Motion-Technik zum Motor der Filmerzählung. Sie hält das Publikum bei der Stange, überbrückt Längen, Unklarheiten und logische Ungereimtheiten und erfreut zudem mit einer sehenswert gefräßigen Running-Gag-Ratte, die dem Grauen des Geschehens mit grauenhaftem Appetit begegnet.

Der Film ist keine leichte Kost, es gibt viele Verweise und Bezüge zur DDR-Geschichte, die sich nicht unbedingt sofort erschließen, aber in jedem Fall muss man den Hut vor Heinrich Sabl ziehen. Nicht nur für seinen ungeheuren Mut und die Beharrlichkeit, dieses Mega-Projekt durchzuziehen, sondern zuallererst für seine künstlerische Leistung. Hier hat niemand „nach reiflichen Marketinguntersuchungen eine erfolgversprechende Nische besetzt“, sondern ein Vollblutkünstler, der absolut sein Handwerk versteht, hat quasi aus dem Nichts ein wuchtiges, ganz eigenes Stück Filmkunst erschaffen, wie man es lange nicht auf der Leinwand gesehen hat – eine seltene, wertvolle und sehenswerte Kino-Ikone. Für die Stimmen der Puppen konnte Heinrich Sabl großartige Sprecherinnen und Sprecher gewinnen, die erste Garde der deutschen Film- und Theaterszene: die wunderbare Dagmar Manzel spricht die erwachsene Sophie, Steffi Kühnert und Florian Lukas übernehmen die Stimmen der Eltern, und Milan Peschel spricht den Beckmann.

Sicherlich ist „Memory Hotel“ kein Film für alle und jeden, und Kinder haben in diesem Film rein gar nichts verloren. Dieser Film wendet sich an ein erwachsenes Publikum und besonders an Arthouse-Fans, die sich ab und zu mal was Gutes für den Intellekt gönnen möchten. Es könnte sogar sein, dass der Film polarisiert, denn nicht alle werden mit diesem sperrigen, widerborstigen Kunst-Werk etwas anfangen können. Heinrich Sabl erzählt auf mal süffige, mal spröde Weise von deutscher Geschichte mit ihren zahllosen Untiefen, von Liebe, Verrat, Vergebung und Solidarität. Er erzählt auch von einer Frau, die alles andere als gefügig ist, bis hin zur friedlichen Revolution des Jahres 1989 … ohne jedoch den Zuschauer mit einem Gute-Laune-Schluss in die Wirklichkeit zu entlassen. Wer aber (auch) ins Kino geht, um einen anderen, vielleicht sogar einen neuen Blick aufs Leben zu gewinnen, wer gewillt ist, ungewohnte Bilder zu entdecken und sich auf eine atmosphärisch starke, aber spröde Geschichte einzulassen, der wird „Memory Hotel“ unbedingt als Bereicherung betrachten.

 

Memory Hotel

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