Menschliche Dinge

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Nach mehreren Komödien hat sich Yvan Attal mal wieder eines ernsthaften Stoffs angenommen. Einer Geschichte, die so aktuell wie nie ist. Sie basiert einerseits auf dem Roman von Karine Tuil, ist andererseits aber auch vom so genannten „Stanford Fall“ inspiriert. Es geht um einen jungen Mann, dem vorgeworfen wird, eine junge Frau vergewaltigt zu haben. Er selbst hat den sexuellen Kontakt als einvernehmlich wahrgenommen. Vor Gericht soll nun die Wahrheit herausgefunden werden.

Webseite: https://www.mfa-film.de/kino/id/menschliche-dinge/

Les Choses Humains
Frankreich 2021
Regie: Yvan Attal
Buch: Yaël Langmann, Yvan Attal
Darsteller: Ben Attal, Suzanne Jouannet, Charlotte Gainsbourg

Länge: 139 Minuten
Verleih: MFA
Kinostart: 3. November 2022

FILMKRITIK:

Alexandre ist Student in Stanford und kommt nur kurz nach Hause zurück. Er nimmt Mila, die Tochter des neuen Lebensgefährten seiner Mutter, mit zu einer Party. Am nächsten Tag steht die Polizei vor seiner Tür, durchsucht die Wohnung und verhaftet ihn. Ihm wird die Vergewaltigung von Mila vorgeworfen. Das ist seine Perspektive, der Film bietet dann aber auch die von Mila, die im Polizeirevier erzählt, was ihr passiert ist, die sich untersuchen lassen muss, die sich eines schmerzhaften Prozesses stellen muss. Der Film erzählt aus beider Perspektive, zeigt in Rückblicken aber auch den fraglichen Abend und findet ein Schlussbild, das ohne Zweifel zeigt, wessen Version die wahre ist.

Und doch ist auch das subtil, denn „Menschliche Dinge“ orientiert sich vor allem am Konflikt zweier Wahrnehmungen. Als Zuschauer geht es einem wie den Menschen im Gericht – man weiß nicht, was wirklich passiert ist. Alexandre wird als durchaus sensibler Mann gezeigt, aber könnte er das Nichtvermögen Milas, „Nein“ zu sagen, falsch gedeutet haben? Oder wird er Opfer eines Rachegelüsts, das darauf basiert, dass mit ihr zu schlafen, auch Teil einer Wette war, weswegen er am Ende ihren Slip mitgenommen hat? Und was ist mit den Widersprüchen, in die sich beide verstricken? Die Geschichten, die ein etwas anderes Licht auf Alexandre und Mila werfen? Kurz gesagt: Es ist schwierig.

Auch und gerade für den Zuschauer, denn man erlebt Alexandre durchaus sympathisch, hat aber im Gegenzug nicht das Gefühl, dass Mila eine Show abliefert. Es gibt darum wohl zwei Wahrheiten. Oder besser: Wahrnehmungen. Denn in der Schnittmenge beider liegt letzten Endes die eine universelle Wahrheit.

Der Film schafft es, den Zuschauer immer wieder das Geschehen in Frage stellen zu lassen. Er schafft es aber auch, diese Geschichte nicht nur auf die beiden Menschen heruntergebrochen darzustellen, sondern auch zu zeigen, was es mit ihnen, vor allem aber auch mit ihrem Umfeld macht. Es ist dabei von Vorteil, dass die eigentliche Handlung erst nach gut einer halben Stunde einsetzt. Bis dahin erlebt man vor allem Alexandres Eltern – den Journalisten mit einer Affäre auf der einen, die feministisch agitierende Mutter auf der anderen Seite. Man erhält ein Gefühl dafür, wie dieses Ereignis auch auf sie wirkt. Wichtig ist dabei: Auch hier ist es eine Frage der Wahrnehmung.

Alexandres Vater glaubt nicht an die Vergewaltigung. Er glaubt, das Mädchen hätte „Nein“ sagen können. Er denkt, keine Frau würde mit einem Mann mit in einen Verschlag gehen, wenn sie es nicht auch wollte. Aber seine Freundin fragt ihn, was er täte, wenn seine Tochter ihm nach einem solchen Erlebnis erzählen würde, dass sie vergewaltigt wurde. Da findet auch bei ihm ein Perspektivenwechsel statt, weil Ereignisse auch immer persönlich gefärbt sind.

Das ist die Stärke von „Menschliche Dinge“. Eine Geschichte zu erzählen, an der man sich reiben kann, und die keine einfachen Antworten parat hat.

 

Peter Osteried