Lange Jahre war sie die mächtigste Frau der Welt, doch wirklich Nahe kam man ihr selten: Angela Merkel, Frau, Ostdeutsche, Bundeskanzlerin. Porträtfilme über Merkel gibt es viele, was Eva Webers „Merkel“ so besonders macht ist der Blick von Außen. Viele Politiker aus der angelsächsischen Welt kommen zu Wort, deren Blick auf Merkel viel wohlwollender, aber auch differenzierter erscheint als der Blick der Deutschen auf ihre langjährige Kanzlerin.
Großbritannien 2022
Regie: Eva Weber
Dokumentarfilm
Länge: 95 Minuten
Verleih: Progress Film-Verleih GmbH
Kinostart: 24. November 2022
FILMKRITIK:
Kein Jahr ist Angela Merkel nicht mehr im Amt, nach 16 Jahren als Kanzlerin. Dass sie den Rekord von Helmut Kohl um zehn Tage verpasste, dürfte Merkel herzlich egal sein, denn wie es der ehemalige britische Premierminister Tony Blair an einer Stelle von Eva Webers Dokumentarfilm formuliert regierte Merkel ohne Ego. Auch wenn diese Bemerkung gewiss nicht ganz zutrifft, niemand wird schließlich aus reinem Zufall Kanzlerin eines der mächtigsten Länder der Welt, zeichnete es Angela Merkel dennoch aus, in erster Linie nicht sich selbst oder ihre Partei im Sinn gehabt zu haben, sondern das Land.
Und auch wenn sie 16 Jahre im Zentrum der Aufmerksamkeit stand blieb der Mensch Angela Merkel ein Mysterium. Man wusste, dass sie schon mal persönlich im Supermarkt einkaufen ging und in ihrer Wohnung in Berlin-Mitte für sich und ihren Mann kochte, aber schon die jährlichen Besuche bei den Wagner-Festspielen in Bayreuth waren nur halb Privat. Wer also war Merkel? Was gibt es neues über eine Politikerin zu sagen, die oft unterschätzt, von manchen verachtet und in den Monaten seit dem Ende ihrer Amtszeit zunehmend und oft ungerecht kritisiert wird?
Eine Filmemacherin aus Deutschland hätte wohl einen anderen Fokus gewählt, hätte andere Schwerpunkte gesetzt als es Eva Weber in ihrem ersten abendfüllenden Dokumentarfilm tut. Seit den 90er Jahren lebt die in Deutschland geborene Regisseurin in London, was ihren Film wie einen Blick von Außen wirken lässt – und gerade das macht seine besondere Qualität aus. Eine bemerkenswerte Riege von Zeitzeugen aus dem angelsächsischen Raum hat Weber vor die Kamera bekommen, neben Blair zum Beispiel Hillary Clinton, dazu Condoleezza Rice, ehemalige Außenministerin der USA oder Ben Rhodes, Sicherheitsberater im Obama-Kabinett. Dazu kommen deutsche Politiker und Journalisten wie Thomas de Maizière, Dirk Kurbjuweit oder Robin Alexander.
Merkel selbst ließ sich wenig überraschend nicht interviewen, sie ist in zahlreichen, hervorragend zusammengestellten Ausschnitten aus Talkshows, Interviews und öffentlichen Auftritten zu sehen, die ihre Karriere von „Kohls Mädchen“ bis zur „mächtigsten Frau der Welt“ nachzeichnen. Ein Aspekt zeigt sich dabei von den ersten bis zu den letzten Bildern: Merkels Zurückhaltung, ihr überlegtes Auftreten, ihre Bescheidenheit.
Und während die deutschen Kommentatoren tatsächliche oder angebliche Fehler ihrer Amtszeit betonen – ihre Haltung während der Flüchtlingskrise etwa oder ganz aktuell: Das deutsche Verhältnis zu Russland – betonen die Zeitzeugen aus dem angelsächsischen Raum Merkels Stärke, ihren Einsatz für den Ausbau der Demokratie, der Europäischen Union und der internationalen Sicherheitsarchitektur. Wie so oft erweist sich auch hier, dass es Deutsche im eigenen Land besonders schwer haben. Vielleicht bedarf es des Blicks von Außen, um die Qualitäten einer Politikerin wie Angela Merkel zu schätzen. Besonders für amerikanische Beobachter wird durch den Vergleich zu einem Berserker wie Donald Trump, der Mauern bauen ließ, und einer Angela Merkel, für die der Fall der Mauer einer, wenn nicht der wichtigste Moment in ihrem Leben war, frappierend deutlich.
Es ist Eva Webers großes Verdienst, einen anderen Blick auf Angela Merkel zu werfen und auf würdigende, aber nie unkritische Art, die politische Karriere einer Politikerin nachzuzeichnen, um die viele Deutschland beneidet haben.
Michael Meyns