Missverstanden

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Wie erlebt ein neunjähriges Mädchen inmitten neurotischer, selbstverliebter Künstlereltern seine Kindheit? An einer Antwort hierauf versucht sich Underground-Ikone Asia Argento. Ihr neuer Film „Missverstanden“, der bei den diesjährigen Filmfestspielen von Cannes in der Reihe „Un certain regard“ gezeigt wurde, erzählt in expressiven Farben, verspielten Einstellungen und unterlegt von einem 80er-Jahre-Soundtrack eine tragikomische, bisweilen anrührende Geschichte. Die junge Hauptdarstellerin Giulia Salerno ist eine Entdeckung, gegen die selbst Gabriel Garko und Charlotte Gainsbourg als heillos zerstrittenes Elternpaar in den Hintergrund treten.

Webseite: www.missverstanden-film.de

OT: Incompresa
I/F 2014
Regie: Asia Argento
Drehbuch: Asia Argento, Barbara Alberti
Kamera: Nicola Pecorini
Darsteller: Giulia Salerno, Gabriel Garko, Charlotte Gainsbourg, Carolina Poccioni, Alice Pea Anna, Lou Castoldi
Laufzeit: 110 Minuten
Verleih: Rapid Eye Movies
Kinostart: 22.1.2015
 

FILMKRITIK:

Die Idee, die Welt der Erwachsenen aus der Perspektive eines Kindes zu betrachten, kann mitunter zu durchaus seltsamen Ergebnissen führen. Wenn sich die eigenen Eltern wie pubertierende Teenager oder eitle Egoisten auf einem Selbstfindungstrip aufspielen, ist das eine nicht immer schöne Erkenntnis. Für die kleine Aria (Giulia Salerno) wird ihr Zuhause dadurch zu einem Ort, an dem sie sich immer öfter alleine und verlassen fühlt. Während ihr Vater (Gabriel Garko), ein selbstverliebter Möchtegern-Filmstar, mit allen Mitteln versucht, die eigene Karriere voranzubringen, flüchtet sich ihre Mutter (Charlotte Gainsbourg) in zahllose Affären und Drogenexzesse. Als sich die Eltern dann doch einmal für die Familie interessieren, dann konzentriert sich fast ihre gesamte Liebe und Aufmerksamkeit auf Arias ältere Schwester. Auch nach der von lauten Streitereien begleiteten Trennung beherrscht ein merkwürdiges Chaos das Leben der Neunjährigen. Weder beim Vater und ihrer älteren Stiefschwester noch bei der Mutter, die plötzlich die Esoterik für sich entdeckt, hat Aria das Gefühl, verstanden und ernst genommen zu werden.
 
Fast folgerichtig lautet der Titel dieser aus Kinderaugen erzählten Familiengeschichte „Missverstanden“. Es ist erst der dritte Film der Underground-Ikone Asia Argento, bei dem diese Regie führte und am Drehbuch mitschrieb. Zehn Jahre nach „The Heart is Deceitful above all Things“ präsentiert sich die Tochter von Horrorfilm-Regisseur Dario Argento und Schauspielerin Daria Nicolodi als weiterhin unangepasste Erzählerin. Auch wenn Argentos Herkunft die Vermutung nahelegt, so ist „Missverstanden“ doch keinesfalls eine autobiografische Arbeit. Lediglich bestimmte Elemente des Films seien von eigenen Erfahrungen oder Beobachtungen inspiriert, wird sie im Presseheft zitiert. Als Zuschauer geht man dennoch auf Spurensuche und versucht gewisse Bezüge herzustellen, zumal Argento hier ein verglichen mit ihrem Elternhaus recht ähnliches, großstädtisches Milieu portraitiert.
 
Verpackt hat sie ihre bisweilen komische und gleich im nächsten Augenblick sehr schmerzhafte Erzählung in knallbunte Farben und einen nostalgischen 80er-Jahre-Soundtrack aus Synthiepop und Punkrock. Ihr Film über ein neunjähriges Mädchen im Auge eines familiären Orkans besitzt dadurch eine bemerkenswerte Leichtigkeit. Verspielt und frech präsentiert sich „Missverstanden“, womit er den Blickwinkel der kleinen Aria bis zum durchaus zweideutigen Ende konsequent beibehält. Die Sympathien des Publikums liegen bei ihr, wohingegen die Eltern mehr wie Zerrbilder anmuten, zu denen man keinen wirklichen Bezug aufbauen kann. Argento lässt sowohl Arias Vater als auch ihre Mutter von Gabriel Garko und Charlotte Gainsbourg fast durchweg als wenig einfühlsame Egoisten karikieren. Dagegen darf die junge Giulia Salerno ihr ganzes schauspielerisches Talent in die Rolle einbringen. Es ist schon erstaunlich, wie sehr sie den Film und darin praktisch jede Szene bestimmt.
 
Man kann „Missverstanden“ leicht vorwerfen, dass er zu sprunghaft und hektisch inszeniert sei. In Wahrheit steckt hinter dieser sorgsam aufgebauten Fassade nur der Blick eines kleinen Mädchens auf seine sonderbare Umwelt. Als Vorstufe zu einer klassischen Coming-of-Age-Geschichte, die zugleich den Irrsinn einer dysfunktionalen Künstlerfamilie satirisch überspitzt darstellt, bewegt sich Argento stets mit großem Einfühlungsvermögen durch die Gefühlswelt(en) einer Neunjährigen. Zu dieser gehören die Konflikte im Elternhaus ebenso wie das Erleben von Freundschaft und eine kindliche Abenteuerlust.
 
Marcus Wessel