Das Biopic über Charles Aznavour ist die gelungene Hommage an einen großen Künstler und zeigt – in Form einer musikalischen Reise durch sein langes Leben und seine berühmtesten Songs – die facettenreiche Geschichte des wohl berühmtesten aller französischen Chansonniers, dessen Karriere nahezu 75 Jahre umfasste. Von seinen Ursprüngen im Pariser Quartier Latin bis zum Weltruhm … Charles Aznavour hat niemals den Boden unter den Füßen verloren, er war und blieb ein Kämpfer für Toleranz und Menschlichkeit, der sich auch im hohen Alter noch politisch engagierte.
Und er war noch selbst an den Vorbereitungen für seine Filmbiographie beteiligt, geschrieben und inszeniert von den beiden französischen Filmemachern Grand Corps Malade und Mehdi Idir, die mit „Lieber leben“ (2016) ihre erste gemeinsame Arbeit präsentierten.
Über den Film
Originaltitel
Monsieur Aznavour
Deutscher Titel
Monsieur Aznavour
Produktionsland
Frankreich
Filmdauer
134 min
Produktionsjahr
2024
Produzent
Eric Altmayer und Nicolas Altmayer
Regisseur
Mehdi Idir und Grand Corps Malade
Verleih
Weltkino Filmverleih GmbH
Starttermin
22.05.2025
Charles Aznavour wächst im Pariser Künstlerviertel Quartier Latin auf, wo seine Eltern, die dem Genozig am armenischen Volk knapp entkommen konnten, eine schlecht gehende Bar betreiben, in der sich die armenische Community mit jüdischen Einwanderern und den in Frankreich ansässigen Manusch (Sinti) trifft. Sein Vater Mischa ist ein herzlicher und lebensfroher Mann, leider ohne jeden Geschäftssinn. So wächst Charles mit seiner Schwester Aïda in einer liebevollen, aber von Not und Armut geprägten Umgebung auf. Mit sieben Jahren darf der kleine Charles für ein paar Puseratzen eine Minirolle am Theater Champs Elysee spielen, und sein erster Satz auf einer Bühne lautet: „Ja, ich bin angekommen.“ Ein nahezu prophetischer Satz, der für sein ganzes weiteres Leben gelten wird.
Als Paris im 2. Weltkrieg von der deutschen Wehrmacht besetzt wird, ist Charles, gespielt von Tahar Rahim, 16 Jahre alt. Er singt vor den deutschen Soldaten, unterstützt aber heimlich den Widerstand, und er findet einen Partner für seine Gigs: den lebenslustigen Pierre Roche (sehr überzeugend und mit viel jugendlichem Charme: Bastien Bouillon), der sein bester Freund wird. Die beiden reisen zu Fuß oder mit dem Fahrrad quer durch Frankreich und treten mit witzigen Couplets in Tanzlokalen und Bars auf. Doch eines Tages begegnen sie Edith Piaf, damals schon ein Star. Marie-Julie Baup spielt sie ganz wunderbar als großzügige, scharfzüngige Diva mit tyrannischen Zügen. Sie nimmt Charles unter ihre Fittiche, unter anderem, weil sie von seiner kratzigen Stimme angetan ist – mit seiner Reibeisenstimme hört er sich eigentlich immer an wie jemand, der eine schlimme Nacht hinter sich hat, seine Stimme klingt irgendwie rostig und sandig – als ob er mit Reißnägeln gegurgelt hätte. Und mit Edith Piafs Unterstützung gelingt ihm, wovon Charles geträumt hat: eine Gesangskarriere, für die er bereit ist, fast jedes Opfer zu bringen.
Im Film singt Charles Aznavour seine Original-Chansons – Tahar Rahim hat zwar offenbar sorgfältig die Bewegungen, die Gestik und die Mimik des Künstlers studiert sowie für seine Rolle auch Tanz- und Gesangsunterricht genommen, aber er überlässt dankenswerterweise wenigstens stimmlich dem großen Chansonnier die Bühne. Immerhin gibt ihm Tahar Rahim genau die richtige Portion Mut – und manchmal Übermut – zusammen mit einer unterschwellig spürbaren Verletzlichkeit und Zerbrechlichkeit. Aus diesen Kontrasten, aus der Energie eines zielstrebigen, couragierten Vollblutkünstlers, der um jeden Preis singen will und dafür bereit ist, praktisch alles andere aufzugeben, zieht Tahar Rahim seine Kraft. Das wird besonders zu Beginn deutlich, und darin liegt auch eine gewisse Tragik, die nach dem Verlust seines Sohnes Patrick besonders deutlich wird, denn eigentlich ist ihm nur seine Kunst wichtig. Als Patrick stirbt, ist Charles Aznavour ein Weltstar und hat gerade seine dritte Ehefrau Ulla (Petra Silander) geheiratet, doch Patricks Tod zieht ihn in tiefe Depressionen, aus denen er sich wie immer mit Arbeit rettet: die Bühne als Droge, die Musik als Medizin.
Eigentlich wollte Charles Aznavour, dass sein Biopic mit den ersten Erfolgen enden sollte. Doch seine großen Chansons, die ihm Weltruhm brachten, entstanden alle erst später, „She“ oder „La Bohème“ oder „Comme ils disent“. So entschlossen sich die beiden Regisseure Grand Corps Malade und Mehdi Idir, die auch als Autoren zusammenarbeiten („Lieber leben“), das gesamte Leben von Charles Aznavour zu zeigen, thematisch und chronologisch untermalt von seinen zur jeweiligen Situation passenden Chansons. Dieses Konzept ist großenteils gelungen. Wie sich Charles Aznavour mühsam von ganz unten nach ganz oben kämpft, ist aber deutlich interessanter, als die Erfolge abzuhaken. Der erste Teil des Films ist dadurch besonders fesselnd und atmosphärisch stark. Stimmungsvolle Bilder, zum Teil Originalaufnahmen, dokumentieren dabei den Kampf des armenischen Volkes gegen seinen Untergang ebenso wie das Leben der Flüchtlinge in Frankreich und die Last der deutschen Besatzung mit der Verfolgung der jüdischen Bevölkerung und der Manusch, aber sie zeigen auch das Glück, am Leben zu sein. Zwischen diesen beiden Extremen bewegte sich Charles Aznavour, vor allem zu Beginn seiner Karriere. Doch bis ins hohe Alter betätigte er sich auch politisch: Er unterstützte das armenische Volk auf seinem Weg in die Unabhängigkeit und wurde nicht nur armenischer Botschafter, sondern zu einem der wichtigsten Vertreter der armenischen Diaspora.
Merkwürdigerweise passt das sich steigernde Tempo des Films ganz gut zum Leben dieses Künstlers, der immer in Bewegung blieb. Seinen 90. Geburtstag feierte er auf der Bühne – in Berlin, und zwei Wochen vor seinem Tod mit 94 Jahren gab er sein letztes Konzert. Seine Frauen, seine Kinder, sogar seine geliebte Schwester spielen im Grunde nur unbedeutende Komparsenrollen. Auch das zeigt der Film. Nachdem sich Charles auf Rat von Edith Piaf entschieden hatte, für seine Karriere alles andere aufzugeben, inklusive Frau, Kind und Freund Jean Roche, wird er endgültig zum besessenen Arbeiter, obwohl er es als Flüchtling schwer hat. Da erinnert einiges fatal an heutige Social Media-Debatten. Aber er hat es trotzdem geschafft, bis an die Spitze – dass er stolz darauf war, aber auch niemals vergessen hat, woher er kam, zeigt der Film mit großer Eindringlichkeit: Ein Leben für die Kunst. Charles Aznavour wurde für die Bühne geboren, und die Bühne war sein Zuhause.
Gaby Sikorski