Morgentau

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Immer noch führt das afrikanische Kino ein Nischendasein. Dabei kann es – wie dieser Film des äthiopischen Regisseurs Haile Gerima eindrucksvoll beweist – zumindest in seinen besten Momenten mit dem Rest der Filmlandschaft mithalten. „Morgentau“ ist ein großes Epos über die letzten 30 Jahre äthiopischer Geschichte und Unwägbarkeiten des Kampfes um persönliche und gesellschaftliche Freiheit.

Webseite: www.tezathemovie.com

OT: Teza
Äthiopien/ Deutschland/ Frankreich 2008
Regie: Haile Gerima
Drehbuch:
Musik: Vijay Iyer & Jorga Mesfin
Darsteller: Aaron Arefe, Abeye Tedla, Takelech Beyene, Teje Tesfahun, Nebiyu Baye, Wuhib Bayu
Länge: 140 Min. OmU.
Verleih: debese.film Berlin (ehem. Venusfilm)
Kinostart: 5. Mai 2011
 

PRESSESTIMMEN:

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FILMKRITIK:

Nur wenigen afrikanischen Regisseuren gelingt es über Jahre oder gar Jahrzehnte, regelmäßig Filme zu drehen. Der in Äthiopien geborene, seit Ende der 60er Jahre in Amerika lebende Haile Gerima gehört zu diesen Ausnahmen. „Morgentau“ ist sein elfter Film seit 1972, doch sein erster seit 1999. Jahre dauerte es, bis die Finanzierung stand, wovon die zahllosen internationalen Fördergremien zeugen, die im Vorspann aufgezählt sind. Und doch ist „Morgentau“ keiner jener nur bedingt afrikanisch zu nennenden Filme aus Afrika, die vor allem auf die Bedürfnisse des internationalen Festivalkinos zugeschnitten sind. Den einzigen Kompromiss, den Gerima auf Grund der deutschen Filmförderung machen musste, sind einige Szenen, die im Köln der 70er Jahre spielen und bezeichnenderweise auch die einzigen schwachen Momente eines ansonsten außerordentlichen Films sind.

In Köln beginnt die Geschichte mit der Hauptfigur Anberber, schwer verletzt im Krankenhaus liegend. Kurz darauf kehrt er nach Jahren der Abwesenheit in seine äthiopische Heimat zurück, die er kaum noch kennt. In seinem Dorf wird er von seiner alten Mutter voller Hoffnung empfangen, als im Ausland ausgebildeter Doktor, der die Not ein wenig lindern soll. Doch Anberber ist von den an ihn gestellten Erwartungen überfordert, vor allem aber von den politischen Ereignissen, denen er fast apathisch, vor allem aber machtlos zusieht. Jugendliche werden von Regierungstruppen zwangsrekrutiert, Mütter schicken ihre Kinder in die Berge, wo sie sich verstecken sollen, die inneren Konflikte Äthiopiens finden kein Ende. Immer mehr verliert sich Anberber in seinen Erinnerungen, sieht sich selbst als kleinen Jungen, als Jugendlichen, als angehenden Studenten, und das breite Geschichtspanorama beginnt sich zu entfalten.

Fraglos hilft es für das Verständnis von „Morgentau“, über die politische Entwicklung Äthiopiens informiert zu sein, die der Film oft nur andeutet. Zumal die Unterschiede zwischen den marxistischen Gruppen, die sich in immer neuen Bürgerkriegen bekämpften, nicht leicht zu durchschauen sind. Wichtiger als die speziellen Umstände der äthiopischen Geschichte sind für Gerima aber die universellen Muster, die sein Film voller Melancholie über vertane Chancen darstellt. Dass der Sturz eines autokratischen Regimes nur der erste Schritt auf dem langen Weg zur Demokratie ist, die vormaligen Unabhängigkeitskämpfer nur allzu oft selbst die Rolle der Unterdrücker übernehmen, ist nicht nur in Afrika immer wieder zu beobachten. Das macht „Morgentau“ zu einem hochaktuellen Film, der trotz allem fast nie – außer in den schon erwähnten Szenen im Köln der 70er Jahre – didaktisch wird. Meist bedient sich Gerima einer poetischen Bildsprache, deutet mehr an, als das er ausspricht und schafft es so, in den Kopf seiner Hauptfigur zu blicken, die erst am Ende des Films ihre Hoffnungslosigkeit überwindet. Ein herausragender Film.

Michael Meyns

Ein in Äthiopien spielender Film, eine absolute Seltenheit bei uns.

1990. Anberber kommt heim. Seine Mutter erwartet ihn sehnsüchtig. Er hat ein Bein verloren, war im Krieg. In welchem wird nicht genau gesagt. Aber die Szene ist symptomatisch für den Film. Denn Äthiopien hat sehr lange im Krieg gestanden - gegen die Besatzungsmacht Italien beispielsweise oder viel später gegen Eritrea, vom bürgerkriegsähnlichen Widerstand gegen das kommunistische Regime Mengistu einmal ganz abgesehen.

Die vergangenen Ereignisse laufen noch einmal an Anberber vorbei: die Kindheit und Schulzeit; die religiösen koptischen Zeremonien; wie die Regierungssoldaten junge Männer einfangen, sie zum Wehrdienst zwingen und erschießen, wenn sie fliehen wollen; die Jahre (um 1970), in denen er in Deutschland (Köln) Medizin studierte, politischen Diskussionen über den Rassismus, den Sturz des Kaisers Haile Selassie oder die kommunistische Revolution unter Mengistu beiwohnte und Cassandra traf; wie er (etwa 80er Jahre) in Addis Abeba gegen die propagandistisch fanatischen Mengistu-Kommunisten auftrat, deshalb schwer verfolgt wurde, Selbstkritik üben musste und seinen besten Freund Tesfaye verlor; wie er zur Zeit des Mauerfalls wieder in Deutschland war und Tesfayes Sohn Teodross und seine Mutter Gabi traf; wie später das Verhältnis zu seinem Bruder mehr schlecht als recht war; wie er nach der Heimkehr aus dem Krieg von den einfältigen Leuten in seinem Dorf als von bösen Geistern besessen angesehen wurde, weil er „anders“ war und beispielsweise einer ausgestoßenen Frau half; wie er von seinen Verwandten betrachtet und behandelt wurde; wie er als Arzt um Hilfe gebeten wurde.

Anberber ist seelisch angeschlagen. Er hat fürchterliche Albträume. Bei vielen grausamen Geschehnissen überkommt ihn der Schmerz. Er sagt, sein Erinnerungsvermögen sei beschädigt. Waschungen mit „heiligem Wasser“, von den Verwandten und Dorfbewohnern an ihm vorgenommen, sollen ihn heilen.

Es gibt (für Äthiopien) auch Hoffnung. Die Kinder am Schluss des Films symbolisieren sie genau so wie das Neugeborene, das Anberbers Partnerin Azanu auf die Welt bringt.

Die Zeitebenen wechseln oft, viel Aufmerksamkeit ist deshalb dauernd gefordert. Aber es ist ein Interesse verdienendes kaleidoskopartiges Bild eines Volkes, einer gesellschaftlich-politischen Entwicklung, einer entscheidenden geschichtlichen Epoche, ein intensives Bild von Menschenschicksalen, alles eingebettet in eine fremdartige aber schöne Landschaft, eingefangen von einer bemerkenswerten Kamera.

Thomas Engel