Nach dem Urteil

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Auch in „Nach dem Urteil“, so scheint es der französische Regisseur Xavier Legrande in seinem ersten, in Venedig ausgezeichneten Film anzudeuten, sind die Dinge oft nicht geklärt und vom Tisch - erst recht nicht, wenn es sich um eine Scheidung mit Sorgerechtsstreit handelt. Mit klinisch kaltem Stil seziert Legrande diese Konstellation, doch seine Inszenierung ist deutlich stärker als sein Drehbuch.

Webseite: www.weltkino.de

Jusqu'à la garde
Frankreich 2017
Regie & Buch: Xavier Legrande
Darsteller: Denis Ménochet, Léa Drucker, Thomas Gioria, Mathilde Auneveux, Mathilde Saïkaly, Florence Janas, Saadia Bentaïeb
Länge: 93 Minuten
Verleih: Weltkino
Kinostart: 23. August 2018

FILMKRITIK:

Miriam (Léa Drucker) und Antoine (Denis Ménochet) sitzen vor der Richterin. Zwei Kinder hat das geschiedene Paar, die fast 18jährige Joséphine (Mathilde Auneveux), die schon alt genug scheint, eigene Wege zu gehen, aber auch den 11jährigen Julien (Thomas Gioria), um den sich der Streit dreht. Der Vater verlangt eine Regelung, die ihm regelmäßige Besuche seines Sohnes ermöglicht. Zu diesem Zweck hat er sogar Beruf und Stadt gewechselt und ist in die Nähe seiner Ex-Frau gezogen. Was diese zutiefst erschrickt, denn Antoine stellt sich schnell als jähzorniger, aggressiver Mann heraus, der zwar sehr charmant sein kann, doch mit diesen Momenten der Freundlichkeit nur sein wahres Wesen kaschiert.
 
Doch davon weiß die Richterin nichts, sie entscheidet auf gemeinsames Sorgerecht, so dass Julien genötigt ist, seinen Vater regelmäßig zu treffen. Der hat jedoch nur eins im Sinn: Herauszufinden wo genau seine Ex-Frau lebt, denn er ist davon überzeugt, dass sie ihn eigentlich noch liebt.
 
Bei den letztjährigen Filmfestspielen von Venedig wurde Xavier Legrande für die Inszenierung seines Debütfilms mit dem Preis für die Beste Regie ausgezeichnet. Durchaus verständlich, denn vom ersten Bild an ist „Nach dem Urteil“ mit größter Präzision gefilmt, geprägt von kalten, emotionslosen Blicken auf ein Sujet, das eigentlich niemanden kalt lassen kann. Vom ersten Augenblick ermöglicht dieser distanzierte Blick, die Figuren aus der Ferne zu beobachten, zu verfolgen, wie sie in einem Gestrüpp aus Bürokratie und Gesetzen, vor allem aber Emotionen gefangen sind und konsequent, ja fast schicksalshaft einem unausweichlichen Ende entgegenstreben.
 
Wenn da ziemlich am Anfang ein Gewehr zu sehen ist, muss man unweigerlich an das bekannte Tschechow-Zitat denken: „Wenn im ersten Akt ein Gewehr an der Wand hängt, dann wird es im letzten Akt abgefeuert.“ So ist es auch hier, was so überdeutlich ist, was und wer dieser Antoine ist, und das ist die große Schwäche des Drehbuchs.
 
Eigentlich hat es den Anschein, als wollte Legrande offenhalten, wer denn nun Recht hat, ob die Anschuldigungen Miriams zutreffen, dass ihr Ex-Mann ein jähzorniger Schläger ist, oder ob in Wirklichkeit Antoine vielleicht doch nicht der brutale Mann ist, als den ihn seine E-Frau bezeichnet, oder ob die Wahrheit in der Mitte liegt. Doch das tut sie nicht, denn nach wenigen Minuten ist überdeutlich, dass Antoine nichts anderes ist als ein Arschloch.
 
Von diesem sehr frühen Moment an bewegt sich Legrandes Film auf sein unausweichliches Ende hin, mit einer Zwangsläufigkeit die gleichermaßen beeindruckt wie ermüdet, die aber vor allem die an sich spannenden Fragen zu überschatten droht, die hier mitschwingen: Wie schwierig es für eine Frau ist, sich von einem Mann zu lösen, der nach außen nett und freundlich wirken kann, nach innen jedoch ein ganz anderes Gesicht zeigt. Auch die Schwierigkeit des Gerichts bei dieser Art von Streitfall, bei der Aussage gegen Aussage steht, ein gerechtes Urteil zu finden, wird angedeutet, bleibt dann jedoch wie so vieles im Raum stehen.
 
Etwas zu sehr verlässt sich Legrande auf seine ebenso präzise, wie manierierte Inszenierung, die zwar beeindruckt, aber doch immer wieder überschattet, dass sich seine Figuren mehr wie künstliche Konstrukte verhalten, als wie echte, lebendige Menschen, mit deren Leid man tatsächlich mitfühlt und es nicht nur distanziert beobachtet.
 
Michael Meyns