Menschen, die neue Ideen haben, mit denen sie die Kunst oder die Wissenschaft ein gutes Stück voranbringen möchten, werden gern als „Spinner“ abqualifiziert und in die Freak-Ecke für exzentrische Sonderlinge gestellt. Dort stand in den 60er und 70er Jahren besonders häufig der koreanische Videokünstler Nam June Paik, als einer von vielen, deren Werden und Wirken erst im Nachhinein anerkannt wurde. Wie nachhaltig er als zunächst verkannter Avantgardekünstler die moderne Video-Ästhetik und damit auch tatsächlich das Internet mitgeprägt hat, zeigt Amanda Kims Künstler-Biopic „Nam June Paik: Moon is the oldest TV“.
Über den Film
Originaltitel
Nam June Paik: Moon is the Oldest TV
Deutscher Titel
Nam June Paik: Moon is the Oldest TV
Produktionsland
USA
Filmdauer
109 min
Produktionsjahr
2023
Regisseur
Kim, Amanda
Verleih
Grandfilm GmbH
Starttermin
11.09.2025
Nam June Paik wurde 1932 als Sohn eines koreanischen Unternehmers geboren. Zu Beginn des Koreakrieges flüchtete er nach Tokio, wo er später u. a. Kunst- und Musikwissenschaften studierte. Ursprünglich wollte er Komponist werden, deshalb setzte er sein Studium in Deutschland fort, wo er mehrere Jahre lang mit Karlheinz Stockhausen arbeitete und seine Abschlussarbeit über Arnold Schönberg schrieb. Zu Beginn der 60er Jahre schloss er sich der Fluxus-Bewegung an, einer inzwischen als prägend geltenden Gruppe von Avantgarde-Künstlern, denen die schöpferische Idee wichtiger war als das eigentliche Kunstwerk. Im Rahmen einiger Fluxus-Performances Anfang der 60er Jahre begann er, Fernseher zu manipulieren und zu interaktiven Kunstwerken umzugestalten. Sobald Ende der 60er Jahre bezahlbare Video-Kameras auf den Markt kamen, begann Nam June Paik mit der Produktion von Videos. Ein Meilenstein in seinem Schaffen war ein gemeinsam mit einem japanischen Ingenieur entwickelter analoger Videosynthesizer, mit dem er TV- und Videobilder manipulieren konnte. Ab Beginn der 80er Jahre verlegte sich Nam June Paik hauptsächlich auf Multi-Monitor-Video-Installationen. Er ordnete Monitore zu Skulpturen an, auf denen dann ausgeklügelte Videosequenzen abgespielt wurden. Vom ARTnews magazine wurde Nam June Paik 1999 zum einflussreichsten Künstler des 20. Jahrhunderts gewählt. 2006 starb er in Miami.
Amanda Kim geht in ihrem Biopic über diesen Ausnahmekünstler wider Erwarten ganz traditionell chronologisch vor. Sie hat Film- und Fernseh-Clips von Nam June Paiks Auftritten, Performances und Installationen im Wechsel mit Interviews und Aussagen von Zeitzeugen und Weggefährten aneinander montiert. So weit, so konventionell, möchte man sagen, aber wird diese beinahe brav und bieder daher kommende Herangehensweise einem Grenzensprenger wie diesem „Nostradamus des Digitalzeitalters“ wirklich gerecht? Zumindest macht sie ihn einem Publikum, dem die archaische Technologie der 60er und frühen 70er Jahre einigermaßen exotisch vorkommen muss, verblüffend nahbar. Wenn man den zunächst ein bisschen rührend anmutenden Performance-Clips eine Weile zugeschaut hat, geht einem langsam ein Licht bzw. eine Halogen-Video-Leuchte auf: Mein Gott, was hat dieser Mann alles erfunden! Als Nam June Paik anfing, seine Kunstwerke zu schaffen, waren Fernseher ja nichts weiter als Bildröhren mit einem Tuner, der ein paar Sender empfangen konnte. Er hat nicht nur aus dem Nichts eine vollkommen neue Ästhetik erschaffen, er hat auch entscheidend an der Entwicklung der Technologie mitgewirkt, mit der sie transportiert werden konnte.
Doch es geht Amanda Kim nicht nur um Bewunderung: sie zeigt uns Nam June Paik auch als subversiven Entertainer, als ironischen Irrwisch mit einer Vorliebe für absurde Scherze, der ein Publikum (egal ob groß oder klein) zu unterhalten versteht. Wobei Nam June Paik nicht immer selbst zu Wort kommt. Zahlreiche Voice overs stammen zwar aus seinen Schriften, werden jedoch von Steven Yeun, einem Schauspieler, gelesen.
Je länger man dieser – auch für Kunstmuffel übrigens sehr anregenden – Werkschau zusieht, desto deutlicher wird, was eigentlich das Wichtigste für ihn war, worum es Nam June Paik sein ganzes außergewöhnliches Künstlerleben lang ging: um Kommunikation. Nicht nur um den Austausch zwischen Künstlern und ihrem Publikum bzw. Rezipienten, sondern auch darum, Technologie dazu zu nutzen, die Menschen zusammenzubringen und ihnen die Möglichkeit zum Interagieren zu geben: untereinander und mit einer Technik, die dem Menschen dienen und ihn nicht beherrschen sollte. Amanda Kims Film führt dem Publikum letztlich auch vor Augen, wie sehr eine kraftvolle Stimme wie die von Kim June Paik heutzutage fehlt – auch und gerade in seiner Leidenschaft, seiner Subversivität und Ironie.
Gaby Sikorski