Naomis Reise

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Fast eine Dokumentation über die Verfahrensweisen deutscher Gerichte ist Frieder Schlaichs „Naomis Reise“, der den Tod einer Peruanerin, die von ihrem deutschen Ex-Mann erschlagen wurde, thematisiert. Menschliche Schicksale werden durch die betont technische Sprache zu Statistiken, auch der Einsatz von Laiendarstellern lässt den Film oft holprig wirken, doch gerade das verleiht ihm auch eine ganz eigene Kraft.

Webseite: www.filmgalerie451.de

Deutschland 2017
Regie: Frieder Schlaich
Buch: Claudia Schaefer
Darsteller: Scarlett Jaimes, Liliana Paula Trujillo Turin, Citlali Huezo, Miguel Valenzuela, Daniel Hinojo
Länge: 92 Minuten
Verleih: Filmgalerie 451
Kinostart: 27. September 2018

FILMKRITIK:

Zum ersten Mal in ihrem Leben verlassen Naomi (Scarlett Jaimes) und ihre Mutter (Liliana Paula Trujillo Turin) ihre peruanische Heimat. Ihr Ziel ist Berlin und für einen Moment glaubt man, dass sie dort nicht mehr als einen Verwandtenbesuch bestreiten wollen. Doch der Grund ihrer Reise ist ein anderer, ist ein tragischer: Ihre Tochter bzw. Schwester Mariella ist in Deutschland ums Leben gekommen, erschlagen von ihrem Ex-Mann Bernd, der sich nun vor Gericht verantworten muss. Die Schuld ist eindeutig, die Frage ist vor allem, ob Bernd nur wegen Totschlag verurteilt wird oder ihm doch Mord, also eine Tat aus niederen Instinkten, nachgewiesen werden kann.
 
Als Nebenkläger nehmen Naomi und ihre Mutter am Prozess teil, bald nur noch Naomi, denn die Mutter erträgt es nicht lange, was im Zuge der Beweisaufnahme über ihre Tochter gesagt wird: Als moralisch fragwürdige Person wird Mariella geschildert, die in Peru offensiv um Bernd gebuhlt hätte, ihn nicht aus Liebe geheiratet hat, sondern um ein besseres Leben zu bekommen. Ganz anders sehen das Mariellas Freundinnen, die beschreiben, wie Bernd sie gedemütigt und geschlagen habe.
 
Unerbittlich und von bürokratischer Sprache geprägt läuft der Prozess ab, in dessen Verlauf Naomi zunehmend realisiert, wie wenig sie von ihrer Schwester wusste, wie sehr sie an die Illusion geglaubt hat, dass diese in Deutschland tatsächlich ihr Glück gefunden hat.
 
Auf einem wahren Fall basiert der Gerichtsprozess, der im Mittelpunkt von Frieder Schlaichs Film steht. Das merkt man dem Drehbuch von Claudia Schaefer auch an, dass die Strukturen eines Verfahrens, bei dem Emotionen soweit es geht ausgeschaltet werden sollen und es möglichst nur um Fakten gehen soll, penibel wiedergibt. Dass Schleicher zudem die Entscheidung getroffen hat, Richter, Staatsanwalt und Anwälte mit echten Vertretern dieser Berufe zu besetzen, während die anderen Rollen von Laien übernommen wurden, verleiht dem Film gleichermaßen Authentizität und lässt ihn oft hölzern wirken.
 
Ein Vergleich zu einem thematisch nicht weit entfernten Film wie Fatih Akins „Aus dem Nichts“ ist dabei erhellend. Inszenierte dort Akin einen weitestgehend fiktiven Fall, dessen Verlauf kaum etwas mit einem echten Verfahren zu tun hatte, zeigt Schlaich minutiös die oft kaum zu ertragende Bürokratie eines echten Verfahrens, vor allem auch wie schwer es angesichts der notwendigen Sachlichkeit für Angehörige ist, ruhig zu bleiben.
 
Andererseits gelang es Akin durch seine Künstlichkeit wuchtige Emotionen zu evozieren, während Schlaichs Film oft distanziert wirkt. Zumal er die ganze Komplexität des Schicksals von Mariella nur andeutet, sich etwa der Frage entzieht, was denn tatsächlich ihre Beweggründe waren, einen deutschen Mann zu heiraten und in einer ihr völlig fremden Welt, ein neues Leben zu beginnen. Auch der Druck ihrer in der Heimat zurückgebliebenen Familie, die auf regelmäßige finanzielle Zuwendungen angewiesen waren, bleibt vage. Alles Aspekte, die zwar natürlich nichts an Schuld oder Unschuld von Bernd oder Mariella ändern, die aber zu einer zusätzlichen emotionalen und moralischen Komplexität beigetragen hätten.
 
Ohne diese mögliche Ebene ist „Naomis Reise“ dadurch ein in seiner Genauigkeit der Darstellung eines Gerichtsprozesses bemerkenswerter Film, der sich manchmal ein wenig zu sicher ist, auf der moralisch richtigen Seite zu stehen und dadurch dramatisches Potential außer Acht lässt.
 
Michael Meyns