Never Let Go

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Niemals loslassen, ein guter Ratschlag, der vor Gefahren schützen kann, aber auch eine ungesunde Abhängigkeit beschreiben kann, einen Mangel an selbständigem Denken. Zwischen diesen Polen bewegt sich Alexandre Aja in seinem bisweilen fast märchenhaften Horror-Thriller, der immer wieder interessante Subtexte anzureißen scheint, sich am Ende aber darauf beschränkt, als Genrefilm zu überzeugen, was auch meist gut gelingt.

Never Let Go
USA 2024
Regie: Alexandre Aja
Buch: Kevin Coughlin & Ryan Grassby
Darsteller: Halle Berry, Percy Daggs IV, Anthony B. Jenkins, Matthew Kevin Anderson, Christin Park

Länge: 104 Minuten
Verleih: Leonine
Kinostart: 26. September 2024

FILMKRITIK:

Bevor sie das Haus verlassen, sprechen sie Beschwörungsformeln und versichern sich des Zusammenhaltes ihrer kleinen Familie: Eine Mutter (Halle Berry) und ihre beiden zehnjährigen Zwillingssöhne Samuel (Percy Daggs IV) und Nolan (Anthony B. Jenkins). Eines ist jedoch besonders wichtig: Das dicke Seil, das jeder um den Bauch gebunden hat, mit dem sie mit dem Haus verbunden sind, als wäre es eine Nabelschnur und das Haus der einzige wirklich sichere Ort, eine Art Gebärmutter.
In einem abgelegenen, düsteren Wald steht die Holzhütte der Familie, scheinbar fernab der Zivilisation, ohne Strom oder fließend Wasser, von Fernseher, Radio oder Internet gar nicht zu reden. Wie lange das Trio hier schon lebt wird ebenso wenig präzise beantwortet, wie die Frage worin denn eigentlich genau die Bedrohung besteht. Die Mutter spricht häufig vom „Bösen“, das da draußen lauern soll, das sofort von ihnen Besitz ergreift, wenn sie ohne Seil durch den Wald gehen würden und sich nicht in Acht nehmen.
Doch sind die Gestalten, die die namenlos bleibende Mutter immer wieder zu sehen scheint echt oder doch nur ein Ausbund ihrer Phantasie, eines traumatisierten Geistes? Mal sind es Schlangen, mal reale Menschen, vielleicht ihre Mutter, dann ihr Ex-Mann, der sie in ihrem Glauben bestärkt, ihre Kinder schützen zu müssen.
Realität oder Fiktion? Tatsächliches Grauen oder doch nur Wahnvorstellungen? Immer wieder schwankt man zwischen diesen beiden Polen, immer wieder streut der französische Genreexperte Alexandre Aja Hinweise ein, die in die ein oder andere Richtung weisen, hält sich aber alle Möglichkeiten offen. Eine klare Auflösung würde den Spaß auch reduzieren, der sich dadurch allerdings vor allem aus der Variation von Genretypischen Spannungsmomenten ergibt.
Auf deren Klaviatur zu spielen beherrscht der Regisseur von „High Tension“ oder „The Hils Have Eyes – Hügel der blutigen Augen“ allerdings ausgezeichnet, auch wenn er hier auf die Gewaltspitzen seiner frühen Filme verzichtet. Überzeugend evoziert er aber auch hier ein Gefühl der Bedrohung, der Ungewissheit und der Besessenheit, das auch verzeihen lässt, dass er das Potential seines Ansatzes ein wenig verschenkt.
Gerade wenn in einer Phase der Geschichte Nolan an den Worten seiner Mutter zu zweifeln beginnt, in Frage stellt, ob die an die schaurig ausgemalte Bedrohung tatsächlich existiert, wirkt „Neve Let Go“ wie eine Allegorie der Echoräume der Sozialen Medien, in denen Menschen sich oft in bizarren Glaubensvorstellungen verlieren und jeden Bezug zur Realität verlieren.
Am Ende werden solche Momente, die soziologische oder gesellschaftskritische Subtexte andeuten, allerdings nicht weiter ausgeführt, beschränkt sich Aja darauf, genretypische Schreckmomente zu inszenieren. Das macht er allerdings immer noch sehr effektiv und überzeugend.

Michael Meyns