No Turning Back

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Ein Mann fährt im Auto durch die Nacht und telefoniert die ganze Zeit – und das bisschen Handlung soll abendfüllend sein? Nicht ermüdend, verquasselt oder langweilig wirken? Diese minimalistisch Idee funktioniert tatsächlich! Und sie tut es absolut grandios. Wie Robert Redford als Schiffbrüchiger in „All is lost“ vermag auch dieses Ein-Personen-Kammerspiel mit einem verzweifelten BMW-Chauffeur ungemein zu fesseln und zu faszinieren. Das Roadmovie der etwas anderen Art erzählt, wie der Titelheld dem Neuanfang in seinem Leben entgegenfährt und dabei immer mehr Trümmer seiner bisherigen Beziehung und seines Jobs hinterlässt. Ein atemberaubendes Psychodrama in Echtzeit mit einem grandiosen Tom Hardy als Alleinunterhalter. Nicht umsonst wurde dem makellosen Arthaus-Drama die Ehre des Abschlussfilms der renommierten Viennale zuteil.

Webseite: www.noturningback.de

GB 2013
Regie: Steven Knight
Darsteller: Tom Hardy
Filmlänge: 96 Minuten
Verleih: Wild Bunch Germany, Vertrieb: Studiocanal
Kinostart: 19.6.2014

Pressestimmen:

"Ein erstaunlich packender, extrem minimalistischer Film... eine eindrucksvoll-existenzialistische Charakterstudie."
SPIEGELonline

"Ein virtuos komponiertes, nahezu in Echtzeit gedrehtes Ein-Personen-Drama um einen Mann, der sein Leben binnen einer Filmlänge im Fond seines Autos neu regeln will. Der intensive, durch packende Dialoge strukturierte Film lebt von der Glaubwürdigkeit seines Hauptdarstellers, der in einer sensationellen Parforce-Tour einen Mann spielt, der stets nur das Richtige tun will und dabei ebenso an Grenzen wie auf neue Chancen stößt. - Sehenswert."
Filmdienst

FILMKRITIK:

Ivan Locke hat wichtige Termine. Am Abend wird der Familienvater sehnsüchtig von seiner Frau und den beiden Söhnen zum gemeinsamen Fußball schauen im Fernsehen erwartet. Am nächsten Morgen soll der Bauleiter auf seiner Großbaustelle mit einer logistischen Meisterleistung die Anlieferung von 218 Betonmischern organisieren, um nach penibler Planung das gigantische Fundament für ein Hochhaus zu gießen. Beide Termine wird der sonst so zuverlässige Ivan überraschend sausen lassen. Denn Herr Locke hat noch eine wichtigere Verabredung: Im fernen London kommt in dieser Nacht sein uneheliches Kind zur Welt. Der psychisch labilen Mutter hat er fest versprochen, bei der Geburt anwesend zu sein. Dass die Ehefrau von dem einmaligen Seitensprung mit Folgen noch nichts ahnt, macht die ganze Sache nicht einfacher. Dass den trinklustigen Stellvertreter die alleinige Betreuung der Baustelle ziemlich überfordern wird, scheint absehbar. Doch Locke hat sich entschlossen: Er wird in dieser Nacht nach London aufbrechen. Zu einer Fahrt, die sein Leben einschneidend verändern wird.

„Mutti hat schon Würstchen eingekauft. Wann kommst du endlich?“, will der Sohn am Telefon vom Vater wissen. Auf die Übertragung des wichtigen Fußballspiels freut er sich schon lange. An diesem Abend wird er vergeblich auf Papa warten, dieses Gespräch nimmt Locke noch locker. Die vielen weiteren, die folgen werden, fallen weitaus anspruchsvoller aus. Wie in einer Telefonzentrale muss der Held ständig neue Anrufe bei seiner Fahrt auf der Autobahn annehmen. Da wäre Bethan, jene fragile Frau, die von ihm schwanger ist und zu deren Entbindung er unterwegs ist. Da wäre die Ehefrau Katrina, der er seinen Seitensprung so schonungsvoll wie möglich beichten möchte. Oder sein Chef, der panisch reagiert, als er erfährt, dass sein Bauleiter ausgerechnet am wichtigsten Arbeitstag fehlen will. Last not least ist da noch sein trinkfreudiger Kollege, dem er haarklein erklären muss, wie man die Sache mit der großen Betonanlieferung organisiert. Locke hat all die pausenlosen Telefonate scheinbar souverän im Griff. Mit ruhiger Stimme strukturiert er die Probleme, ist um passende Lösungen nicht verlegen.

Mit jeder Meile freilich, die der Titelheld seinem Ziel in London näher kommt, desto massiver wird er mit den Konsequenzen seines Handelns konfrontiert. Die hysterische Hochschwangere fordert eine Liebeserklärung. Die gehörnte Gattin verlangt die Scheidung. Der tobende Chef droht mit Kündigung. Derweil auf der Baustelle eine mittlere Katastrophe droht. Und dann mischt sich auch noch ein imaginärer Mitfahrer in das Geschehen - der traumatische Grund für das ganze Chaos.

Mit seinen Drehbüchern für „Tödliche Versprechen“ von David Cronenberg oder „Kleine schmutzige Tricks“ von Stephen Frears hat sich Steven Knight einen guten Namen gemacht, Oscar-Nominierung inklusive. In seiner zweiten Regiearbeit (wie zuvor bei „Redemption“ nach eigenem Skript) zieht er perfekt die dramaturgischen Fäden und weiß, wie man auf kleinstem Raum große Spannung erzeugen kann. Der Innenraum des BWM wird aus allen denkbaren Winkeln präsentiert. Als Kontrast blitzen draußen die Scheinwerfer, Leuchttafeln und Reflektionen auf der wenig befahrenen Autobahn auf. Zum größten Teil hält die Kamera jedoch in Großaufnahme auf das Gesicht des telefonierenden Fahrers. Der Zuschauer wird gleichsam zum Beifahrer und willigen Komplizen des an der Freisprechanlage zappelnden Helden.

Damit dieses eigenwillige Konzept funktioniert, bedarf es unbedingt eines außergewöhnlichen Darstellers, der mit dem hierzulande eher unbekannten Briten Tom Hardy gefunden wurde. Ein echter Casting-Glücksgriff, denn dieser bärtige Softie in seinem biederen Baumwoll-Pullover bietet eine schauspielerische Meisterleistung. Leinwandpräsent und charismatisch lässt er diesen Helden psychologisch präzise zwischen trotzigem Stolz, enormem Einfühlungsvermögen, leiser Verzweiflung und Verletztheit schwanken. Dialoge über die technische Beschaffenheit von Beton dürften kaum zum Traumprogramm für Schauspieler gehören. Mit welcher Lässigkeit Hardy solch spröde Texte zelebriert, ist ebenso famos wie das emotionale Geständnis diverser Lebenslügen.

„Wenn du nur einen kleinen Fehler machst, dann bricht alles zusammen“, sagt Locke einmal. Gemeint ist damit die richtige Betonmischung für das Fundament seiner Hochhaus-Baustelle. Die Erkenntnis gilt freilich gleichermaßen für die Basis seiner eigenen Existenz. Mehr und mehr wird im schicken BMW der gute alte Adorno zum modernen Navigationsgerät: „Es gibt kein richtiges Leben im falschen.“

Dieter Oßwald

Viele Ein-Person-Filme gibt es nicht, aus offensichtlichem Grund. Der bislang als Drehbuchautor arbeitende Steven Knight wagt sich in „No Turning Back“ an dieses Experiment, holt das letzte aus einer etwas dünnen Geschichte heraus und kann dabei vor allem auf seinen sehenswerten Hauptdarsteller Tom Hardy bauen.
 
Am Abend setzt sich Ivan Locke (Tom Hardy) in sein Auto und fährt los. Für die nächsten 80 Filmminuten wird er seinen Sitz hinter dem Steuer nicht verlassen, wird auch die Kamera sich nur ganz selten vom Auto entfernen, dass über die Autobahn von Nordengland nach London fährt. Keinen anderen Kontakt zu anderen Menschen hat Locke als die Telefonate, die er fast ununterbrochen führt. Nach und nach wird mit ihnen enthüllt, warum der als penibler Vorarbeiter eines Bauunternehmens bekannte Locke so plötzlich seiner Routine untreu wurde.

Locke, eigentlich glücklicher Familienvater mit zwei Kindern, hatte bei einem Job in einer anderen Stadt einen One-Night-Stand mit seiner Kollegin Bethan. Auf diese eine Nacht folgte Nichts, doch nun hat Locke erfahren, dass Bethan Schwanger ist und das Baby früher als erwartet auf die Welt kommt. Und da Bethan niemand sonst auf der Welt hat, fühlt sich Locke dazu verpflichtet, nach London zu fahren, um ihr beizustehen.
Zusätzlich steht am nächsten Morgen eine aufwändige Zementgießung an, deren Verantwortung Locke nun seinem Mitarbeiter Donal überträgt. Zwischen Telefonaten mit Donal, seinem Chef Gareth, Polizeibeamten und Gemeindevertretern, versucht Locke auch noch seiner Frau Katrina die ungewöhnliche Situation zu erklären und seine beiden Söhne zu beruhigen. So sehr sich der penible Locke jedoch bemüht, alles zu kontrollieren: Am Ende der Fahrt wird in seinem Leben nichts mehr so sein wie zuvor.

Quasi als Experimentalfilm hat Steven Knight „No Turning Back“ gedreht, in acht Nächten, in denen Hauptdarsteller Tom Hardy auf einem Lastwagen mit Automodell durch die Gegend gefahren wurde und die anderen Schauspieler ihre Dialoge per Telefon live einsprachen. Visuell ist aus solch einem reduzierten Konzept kaum etwas raus zu holen und so wirkt es bisweilen auch etwas angestrengt, wie Knight und sein Kameramann Haris Zambarloukos sich bemühen, immer neue Spiegelungen in Fenstern und auf der Karosserie zu finden, dass fahrende Auto in immer neuen Blickwinkeln zu zeigen, Hardy auf immer neue Weise in Szene zu setzen.
Mit diesem hat Knight eine Idealbesetzung für den so kontrolliert und rational wirkenden Ivan Locke gefunden, der glaubt, sich und sein Leben komplett unter Kontrolle zu haben und völlig an die Überlegenheit seiner Ratio glaubt. Mit ruhiger Stimme gibt er am Telefon Anweisungen und macht dabei keinen Unterschied zwischen der richtigen Zementmixtur und der anstehenden Geburt. Nach und nach löst sich diese Fassade auf, entstehen Brüche, die aber zum Glück nicht zu extremen Gefühlsausbrüchen ausarten.

Nur in wenigen Momenten lässt Hardy seine Figur emotional werden, deuten sich die Dämonen an, die Locke zu besiegen versucht. Vor allem die Erinnerung an seinen Vater macht Locke zu schaffen, mit dem er imaginierte Zwiegespräche führt, in denen er sein Verhalten als vorbildlich darstellt. Doch nun sieht er sich vor der Aufgabe, Unmögliches zu vereinen: Sowohl seinem Job, seiner Familie und seiner Verantwortung für das von ihm gezeugte Kind gerecht zu werden.
Wie Hardy das spielt, wie sein Locke nach und nach realisiert, dass er zwar ein guter Mensch ist, aber nun nicht anderes kann, als andere Personen zu verletzten, eine Verantwortung zu vernachlässigen, um einer anderen gerecht zu werden, das ist absolut sehenswert. Auch wenn die Story an sich etwas dünn ist, Tom Hardys Spiel macht aus „No Turning Back“ einen spannenden, bemerkenswerten Film.
 
Michael Meyns