Nordstrand

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Wie schon in seinem Debütfilm „Bergfest“, bedient sich Florian Eichinger auch in „Nordstrand“ den Mustern des Kammerspiels, um von den Folgen traumatischer Erlebnisse zu erzählen. Erneut ist es Missbrauch, der diesmal zwei Brüder auch Jahre nach der Tat belastet. Ein dichtes Drama, stark gespielt und trotz seines Themas angenehm unaufgeregt.

Webseite: www.farbfilm-verleih.de

Deutschland 2013
Regie, Buch: Florian Eichinger
Darsteller: Daniel Michel, Martin Schleiß, Luise Berndt, Anna Thalbach, Rainer Wöss, Martina Krauel
Länge: 89 Minuten
Verleih: farbfilm Verleih
Kinostart: 23. Januar 2014

PRESSESTIMMEN:

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FILMKRITIK:

Ein einsames Haus an der Nordseeküste, direkt am Strand gelegen, von den Elementen umgeben. Hier wuchsen Marten (Martin Schleiß) und Volker (Daniel Michel) auf und treffen sich nun nach Jahren zum ersten Mal wieder. Der Grund für das Weidersehen ist die baldige Entlassung der Mutter (Anna Thalbach) aus dem Gefängnis. Der Grund für die lange Funkstille zwischen den Brüdern ist ihre Vergangenheit, in der besonders Volker immer wieder vom Vater (Rainer Wöss) misshandelt wurde, während sein Bruder und die Mutter tatenlos zusahen; Bis die Mutter irgendwann genug hatte und den Vater tötete. Doch da war es schon zu spät, war das Trauma schon verursacht, dass die Brüder auch als Erwachsene noch belastet.

Dementsprechend vorsichtig ist das erste Wiedersehen, man tastet sich ab, redet um den heißen Brei herum, tariert das Gegenüber aus. Als Außenstehende taucht immer wieder Enna (Luise Berndt) auf, die einst mit Volker zusammen war und nun verheiratet ist. Vorsichtig versucht auch sie, hinter Volkers nur scheinbar gelassenes Wesen zu blicken, zu ergründen, was ihn umtreibt, wie er sich fühlt, ob er wirklich mit der Vergangenheit abgeschlossen hat.

Während Marten plant, die Mutter gemeinsam mit dem Bruder vom Gefängnis abzuholen, um spät, aber vielleicht nicht zu spät, so etwas wie eine heile Familie entstehen zu lassen, will Volker nichts mit der Mutter zu tun haben. Stattdessen plant er, das gemeinsame Haus zu verkaufen, um einen endgültigen Schlussstrich zu ziehen.

Eine Trilogie über häuslichen Missbrauch hat Florian Eichinger geplant, deren mittleren Teil er mit „Nordstrand“ realisiert hat. Die Parallelen zu seinem Debütfilm „Bergfest“ sind daher keine Überraschung, doch ein Vergleich zeigt vor allem eine positive künstlerische Entwicklung. Beide Filme spielen in abgelegenen Orten, deren karge Landschaften die emotionalen Verwicklungen der Figuren spiegelten. Doch schon hier zeigen sich Unterschiede: Dienten die Berge in „Bergfest“ noch als unsubtile Metapher, ist das Meer, an und auf dem viele Szenen von „Nordstrand“ spielen, vor allem markanter Hintergrund.
Ähnlich die Behandlung des Traumas: In kurzen Rückblenden, die oft Martens Erinnerungsfetzen sind, wird der Missbrauch angedeutet, den besonders Volker erdulden musste. Mehr als kurze Fragmente sind das nicht, doch diese Momente reichen aus, um dem eigentlichen Thema Verdrängung eine Basis zu geben.

Während Volker Gleichgültigkeit vortäuscht, wird er von Schuldgefühlen umgeben: Sein Bruder, seine Ex-Freundin, eine alte Nachbarin – sie alle fragen ihn, aber vor allem sich selbst, ob sie nicht etwas hätten tun können. Ist Wegsehen genauso schlimm wie die Tat selbst? Nicht nur diese Frage deutet Florian Eichinger an, überlässt die Antwort jedoch dem Zuschauer. Im Gegensatz zu seinem Debüt hat der Autor und Regisseur inzwischen eine deutlich subtilere filmische Sprache gelernt und verfällt nur selten in plakative Momente. Seine Regie stellt sich ganz in den Dienst der beiden Hauptdarsteller, die auf überzeugende Weise die komplizierte, komplexe Beziehung zweier Brüder darstellen, die durch erlittenen Missbrauch gleichermaßen verbunden und getrennt sind.

Michael Meyns