Orlando, meine politische Biografie

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Als nicht-binären-Film will Autor und Regisseur Paul B. Preciado seinen Film „Orlando, meine politische Biografie“, was gut den freien Umgang mit Form, Inhalt und Ideologie beschreibt: Lose verfilmte Momente aus Virginia Woolfs gleichnamigem Roman stehen neben dokumentarischen Szenen, in denen nicht-binäre Menschen über ihre Erfahrungen berichten. In der Berlinale-Sektion Encounters gab es dafür den Spezialpreis.

Orlando, ma biographie politique
Frankreich 2023
Regie & Buch: Paul B. Preciado
Darsteller: Arthur, Lillie, Eleonore, Noam Iroul, Pierre et Gilles, Tristana Gray Martyr, Tom Dekel, Virginie Despentes

Länge: 98 Minuten
Verleih: Salzgeber
Kinostart: 14. September 2023

FILMKRITIK:

Jahrelang wurde der spanische Philosoph und Kurator Paul B. Preciado gefragt, ob er nicht eine Autobiographie schreiben oder einen Film über seine Erfahrungen als non-binäre Person drehen wollte. Irgendwann ging Preciado auf, dass es diese Autobiographie quasi schon gibt: Virginia Woolfs 1928 erschienen Roman „Orlando“, in dem die englische Autorin das Leben des jungen Adeligen Orlando beschreibt, der eines Tages nach einem langen Schlaf als Frau erwacht.

Dass dieser Roman in den letzten Jahren zu einem Schlüsseltext queerer Theoretiker wurde liegt auf der Hand, Fragen nach Identität und Zuschreibung, die Woolf anreißt sind längst im Mainstream angekommen und werden in „Orlando, meine politische Biografie“ lustvoll, verspielt und vor allem undogmatisch durchdekliniert.

Rund 25 „Orlandos“ hat Preciado vor die Kamera geholt, Menschen zwischen 8 und 70 Jahren, die über ihre Erfahrungen berichten. Optisch verwischen dabei Raum und Zeit, Gegenwart und Vergangenheit, biographisches und fiktives: Zeitgenössische Locations wie eine Arztpraxis, ein Filmstudio oder Straßen werden durch altmodische Requisiten wie Schwerter oder Halskrausen aufgebrochen. Aus den Aussagen der im wahrsten Sinne des Wortes diversen Orlandos formt sich ein Bild queeren Lebens in der Gegenwart, das von einem widerständigen Geist geprägt erscheint.

Agitationskino ist Preciados Film, ein politisches Pamphlet, in dem Parolen auf Wände gesprüht oder deklamiert werden, in dem Selbstermächtigung und Selbstvertrauen groß geschrieben wird. Und das nebenbei auch eine lose Neu-Verflimung von Virginia Woolfs Roman darstellt: Natürlich nicht so werkgetreu wie Sally Potters „Orlando“-Verfilmung mit Tilda Swinton in der Hauptrolle, aber in seiner freien, verspielten Form umso zeitgemäßer.

Man mag hier an „Blutbuch“ denken, den letztjährigen Gewinner des Deutschen Buchpreises, in dem Kim de l’Horizon Erlebnisse, Erfahrungen und Reflexionen in einer Form beschrieb, deren unkonventionelle Form das Erlebte spiegelte. Ähnlich offen geht auch Paul B. Preciado vor, reiht lose Szenen aneinander, in denen immer wieder die vierte Wand durchbrochen wird, Schauspieler im Bild geschminkt oder verkabelt werden, was zwar einerseits die Künstlichkeit der Inszenierung in den Vordergrund rückt, andererseits aber zu einer besonderen Form der Authentizität führt.

Bei aller Relevanz, bei allen Parolen, bei aller Agitation bleibt „Orlando, meine politische Biografie“ aber stets verspielt, verliert sich nie in bloßer Identitätspolitik, sondern überzeugt als filmisches Experiment, das auf ungewöhnliche, originelle Weise mit Formen und Inhalten spielt.

 

Michael Meyns