Past Lives – In einem anderen Leben

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Was für ein Debüt! Gleich mit ihrer ersten Regiearbeit verpasst die in Südkorea geborene, in jungen Jahren mit ihrer Künstlerfamilie nach Kanada ausgewanderte Celine Song dem eigentlich so starren Genre des Liebesfilms eine bemerkenswerte Frischzellenkur. „Past Lives – In einem anderen Leben“ ist eine echte Entdeckung, eine kluge Meditation über zwischenmenschliche Beziehungen, die Erfahrungen von Migranten und unsere Existenz im Allgemeinen. Warum schematisch, wenn es auch aufrichtig und wahrhaftig geht, scheint sich die Drehbuchautorin und Regisseurin gedacht zu haben und zeigt Hollywood, wie man wirkliche Emotionen abbildet, nicht irgendwelche sattsam eingeübten Gefühlsmuster.

Originaltitel: „Past Lives“
Regie: Celine Song
Drehbuch: Celine Song
Darsteller: Greta Lee, Teo Yoo, John Magaro, Moon Seung-ah, Leem Seung-min, Ji Hye Yoon, Won Young Choi u. a.
Länge: 106 Minuten
FSK: noch keine Bewertung
Verleih/Vertrieb: StudioCanal Deutschland
Kinostart: 10.08.2023
Website: https://filme.studiocanal.de/movie/past-lives/all

FILMKRITIK:

Schon der Einstieg deutet Songs kreative Ader, ihre präzise Beobachtungsgabe an. Irgendwo in einer Bar sitzen spät in der Nacht eine Frau und zwei Männer am Tresen. Aus dem Off ertönen plötzlich die Stimmen anderer Gäste, deren Perspektive der Zuschaue offenkundig einnimmt. Angeregt stellen sie Vermutungen an, in welcher Beziehung das von ihnen und uns beobachtete Trio steht. Einer der Drei wirkt wie das fünfte Rad am Wagen, kommt in die Unterhaltung der beiden anderen nicht wirklich rein.

Mit dieser kleinen Episode, an deren Ende die Frau an der Bar direkt in die Kamera schaut, weckt der Film geschickt Neugier, um dann ganz langsam der Frage nach dem Verhältnis der Personen auf den Grund zu gehen. 24 Jahre springt die Erzählung in der Zeit zurück und führt uns nach Seoul, wo sich die 12-Jährige Na Young (Moon Seung-ah) auf den Umzug ihrer Familie nach Kanada vorbereitet. Eine andere Sprache, ja sogar ein anderer Name warten auf das Mädchen, das als ehrgeizig eingeführt wird. Ihre Auswanderung bedauert vor allem ihr bester Freund Hae Sung (Leem Seung-min), mit dem sie tagein, tagaus zur Schule geht. Dass sich zwei Leben im wahrsten Sinne des Wortes trennen, unterstreicht Celine Song beim Abschied mit einem schlichten, aber einprägsamen Bild: An einer Gabelung muss Hae Sung eine andere Straße nehmen als Na Young, die einen steilen Weg emporsteigt. Wahrscheinlich eine Anspielung auf die Herausforderungen, die in der Fremde auf sie warten.

12 Jahre später lebt Na Young als Nora (jetzt gespielt von Greta Lee) in New York und verdient ihren Lebensunterhalt als Autorin. Durch Zufall wird sie im Internet darauf aufmerksam, dass Hae Sung, der inzwischen seinen Wehrdienst absolviert hat, nach ihr sucht. Kurzerhand nimmt sie Kontakt mit ihm auf, und damit beginnt eine von mehreren einfühlsam komponierten Stimmungsmontagen. In den zusammengeschnittenen Videogesprächen der Schulfreunde, die schon damals wahrscheinlich ein bisschen ineinander verliebt waren, ist schnell die alte Vertrautheit zu spüren.

Trotz Zeitverschiebung genießen sie die Unterhaltungen. Doch wie es manchmal so ist, bricht der Kontakt irgendwann ab. Für Nora eröffnen sich neue Wege, als sie in einem Künstlerhaus dem Schriftsteller Arthur (John Magaro) begegnet, den sie schließlich heiratet. Als weitere 12 Jahre ins Land gezogen sind, kündigt sich Hae Sung bei einer New-York-Reise überraschend als Besucher an. Erstmals seit ihrer Trennung im Kindesalter sehen sich die beiden wieder, wobei durchaus etwas in der Luft zu liegen scheint.

Celine Song hätte aus dieser Gemengelage eine typische Eifersuchtskiste mit zahlreichen Irrungen und Wirrungen stricken können. Statt überhitzte, aufgebauschte Konflikte loszutreten, schenkt sie dem Publikum aber einen bedächtigen, emotional tiefschürfenden Austausch über die Mysterien des Lebens, die Liebe, das Schicksal und die Erfahrungen von Einwanderern. Die von der Biografie der Filmemacherin beeinflusste Geschichte fließt eher dahin, ist unterlegt mit einer leicht verträumten, nie aufdringlichen Musik.

Immer wieder gibt es kleine, feine Einsichten, etwa zu Noras amerikanischer Identität und Hae Sungs traditioneller koreanischer Prägung. Mehrfach geht Song auch auf die Bedeutung der Sprache ein, und an einer Stelle erlaubt sie sich einen augenzwinkernden Metakommentar, wenn Nora und Arthur im Bett darüber sinnieren, dass er in einer klassisch erzählten Dreiecksgeschichte wohl den Part des Bösewichts übernähme. Toll, dass der Film auf einen derart abgedroschenen Plot-Move verzichtet, ohne Noras Ehemann zu einem blassen Naivling zu degradieren. Ein bisschen mulmig ist ihm schon, dass sich seine Gattin nach all den Jahren ihrem Kindheitsfreund annähert. Gleichzeitig versucht er jedoch, Hae Sung ohne Vorbehalte zu begegnen. Mitfühlen kann man mit Arthur vor allem gegen Ende, wenn die Handlung in die Bar vom Einstieg zurückkehrt. Mehr und mehr fokussiert sich die Kamera dort auf Nora und ihren Besucher und lässt den Schriftsteller regelrecht links liegen.

Seine ganze Kraft spielt das leise, unaufgeregte Liebesdrama dann noch einmal in den letzten Momenten aus. Unsichere Blicke, ein langgezogenes Schweigen entfalten eine unverhoffte Wucht. Wer klischeefreies Kino für Herz und Hirn sehen will, kommt an „Past Lives – In einem anderen Leben“ nicht vorbei!

Christopher Diekhaus