Piaffe

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Als viszeralen, also die Eingeweide betreffenden, Thriller hat die Künstlerin Ann Oren ihren ersten Spielfilm „Piaffe“ geschrieben, was den Effekt dieses flirrenden, erotischen filmischen Experiments gut trifft. Nicht über eine konventionelle Handlung funktioniert die Geschichte von einer Geräuschemacherin, der ein Pferdeschwanz wächst, sondern über Bilder und Töne, Assoziationen und Emotionen.

Deutschland 2022
Regie: Ann Oren
Buch: Ann Oren & Thais Guisasola
Darsteller: Simone Bucio, Sebastian Rudolph, Simon(e) Jaikiriuma Paetau, Bjørn Melhus, Lea Draeger

Länge: 86 Minuten
Verleih: Salzgeber
Kinostart: 4. Mai 2023

FILMKRITIK:

Die Handlung von „Piaffe“ liest sich in etwa so: Nachdem ihre Schwester Zara (Simon(e) Jaikiriuma Paetau) in ein Krankenhaus eingewiesen wird, übernimmt Eva (Simone Bucio) Zaras Job. Für einen Werbefilm agiert sie als Foley Artist, als Geräuschemacherin. Da die Hauptfigur in dem Werbespot ein Pferd ist, bedeutet das: Pferdegeräusche, Schnaufen, Hufe scharren und anderes zu erzeugen.

Nachdem ein erster Versuch scheitert, dringt Eva immer tiefer in die Materie ein, besucht eine Pferdekoppel, bis eines Tages ein Knubbel auf ihrem Steiß auftaucht. Nach und nach beginnt ein Pferdeschwanz zu wachsen, ein zunehmend mächtiger schwarzer Schweif, der bald die Aufmerksamkeit des Botanikers Novak (Sebastian Rudolph) auf sich zieht, der von Eva ebenso fasziniert ist wie von seinem Forschungsgebiet, den Farnen.

Auf dem Papier mag sich diese Geschichte abstrus anhören, doch eine der vielen Qualitäten dieses besonderen Films ist, dass Ann Oren sie mit solcher Beiläufigkeit erzählt, das auch die seltsamsten, surrealsten Momente ganz selbstverständlich wirken. Mit Verwunderung und Faszination folgt man so der Entwicklung der Hauptfigur, dem Wachsen des Pferdeschwanzes, der für Eva gleichzeitig ein Erwecken unentdeckter Formen ihrer Sexualität bedeutet: Ins queere Berliner Nachtleben taucht sie ein, tanzt zu pulsierenden Technobeats, lässt sich von der Musik treiben und transformieren.

Das Motiv der Verwandlung zieht sich durch „Piaffe“ und lässt das experimentelle Treiben ebenso zeitgemäß erscheinen wie die bewusste Besetzung einer der Hauptrollen mit der nonbinären Person Simon(e) Jaikiriuma Paetau. Ein anbiedern an den Zeitgeist, ein bewusstes Abhaken von Themen hat Ann Oren jedoch nicht im Sinn. Vielmehr ein lustvolles Spiel mit Assoziationen und Verweisen, die ihre Herkunft aus dem Kunstbetrieb verrät.

Bevor sie zum Film kam stellte die aus Israel stammende, seit einigen Jahren in Berlin lebende Künstlerin in zahlreichen Museen aus. In den letzten Jahren entstanden schließlich etliche Kurzfilme, vor allem „Passage“ eine Art Prolog zu „Piaffe“. Beide Begriffe beschreiben Übungen aus dem Dressurreiten, Piaffe eine trabende Bewegung auf der Stelle, wie das Tanzen also wenn man so will.

Die Bewegung des Pferdes verweist jedoch vor allem auf eine der ersten Experimente mit bewegten Bildern, den berühmten Aufnahmen von Edward Muybridge. Die Mitte des 19. Jahrhunderts durch ihre bloße Lust an der Bewegung beeindruckten, ebenso wie die kreisförmigen Zoetrope, auf die „Piaffe“ ebenfalls verweist. Ebenso wie ein viszerales Vergnügen, funktioniert Ann Orens Film auch als visuelles Vergnügung, dank grobkörniger, auf 16mm gedrehten Bildern, die im Vergleich zu modernen, ultrascharfen, aber oft auch glatten Digitalbildern eine spezielle, ganz eigene Physis aufweisen. Und dementsprechend ideal zu einem Film passen, der weniger narrativ, als atmosphärisch funktioniert, der dank seiner zahllosen Assoziationen zwar auch den Intellekt stimuliert, vor allem aber den Bauch, eben die Eingeweide. Ein bemerkenswertes, ungewöhnliches, experimentierfreudiges Debüt ist Ann Oren mit „Piaffe“ gelungen, dass in der oft allzu vorsichtigen, von Konventionen geprägten deutschen Filmlandschaft Seltenheitswert besitzt.

 

Michael Meyns