Plan 75

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Mittlerweile sollte jeder begriffen haben, dass wir als Menschheit vor gewaltigen Herausforderungen stehen: Wie sollen wir den Klimawandel verlangsamen, unseren Planeten schonen, sodass er auch in Jahrhunderten noch bewohnbar sein wird? Als großes Problem erweist sich auch die in vielen Ländern stetig voranschreitende Überalterung, die jüngeren Generationen immer mehr abverlangt. Paradebeispiel für eine Gesellschaft, in der die Zahl der betagten Bürger kontinuierlich anwächst, ist Japan. Über zehn Prozent der Bevölkerung sind 80 Jahre oder älter, und fast 30 Prozent haben das 65. Lebensjahr erreicht oder gar überschritten. Droht angesichts dieser Entwicklungen nicht zwangsläufig ein Kollaps des Systems? Genau diese Frage nimmt die Regisseurin Chie Hayakawa in ihrem Debütwerk „Plan 75“ ins Visier. Mit einer drastischen Regierungsmaßnahme soll darin die Gesellschaft zusammengehalten und die Handlungsfähigkeit gesichert werden

Originaltitel: „Plan 75“
Regie: Chie Hayakawa
Drehbuch: Chie Hayakawa, Jason Gray
Darsteller: Chieko Baisho, Hayato Isomura, Taka Takao, Yumi Kawai, Stefanie Arianne, Hisako Okata, Kazuyoshi Kushida u. a.
Länge: 112 Minuten
FSK: noch keine Bewertung
Verleih/Vertrieb: Fugu Filmverleih
Kinostart: 12.10.2023
Website: http://www.fugu-films.de/site_german/german_home_Plan75.html

FILMKRITIK:

Das Japan der nahen Zukunft im Film steht an einem Scheideweg. Die Überalterung scheint geradewegs in die Katastrophe zu führen, belastet das Miteinander massiv. Gewalttätige Übergriffe auf betagte Menschen, so ist gleich zu Anfang zu hören, steigen dramatisch an. Um die allgemeine Lage zu entspannen, verabschiedet die Regierung ein Gesetz, das Bürger ab 75 animieren soll, freiwillig in den Tod zu gehen. Alle Interessierten werden in einer Art Rundumsorglos-Programm auf ihrem letzten Weg begleitet, können ihre Meinung sogar ändern, was aber natürlich nicht wirklich gewünscht ist. Angepriesen wird der assistierte Selbstmord salbungsvoll als ein heroischer Akt zum Wohle der Nation. Wenn wir bei unserer Geburt schon kein Wörtchen mitzureden haben, dann wäre es doch schön, über den Zeitpunkt unseres Abgangs allein zu entscheiden, lautet die Botschaft eines Werbespots für eben jenen Plan 75.

Angesprochen fühlt sich auch die 78-jährige Michi (Chieko Baisho), obwohl sie eigentlich noch keinen Todeswunsch verspürt. Nach dem Verlust ihrer Arbeitsstelle, mit dem ihre Gesundheitsversorgung wegbricht, steht jedoch plötzlich ihre ganze Existenz auf dem Spiel. Wie soll sie über die Runden kommen? Wo soll sie wohnen ohne das nötige Geld? Die Perspektivlosigkeit treibt die alte Dame schließlich in die Arme der Plan-75-Vermittler. Bei allen Fragen steht Michi fortan am Telefon die Beraterin Yoko (Yumi Kawai) zur Verfügung. Hiromu (Hayato Isomura) arbeitet ebenfalls für das Programm, geht seiner Anwerbetätigkeit mit großem Eifer nach, beginnt allerdings langsam, zu zweifeln, als sich sein Onkel Yukio (Taka Takao) vormerken lässt. Die philippinische Pflegekraft Maria (Stefanie Arianne) wiederum nimmt einen Job bei Plan 75 an, weil sie dort mehr Geld verdienen kann. Geld, das sie dringend für ihre kranke Tochter braucht.

Was schon früh auffällt: Einfach ist der Zugang zu Hayakawas dystopischer Geschichte nicht. Eher nüchtern beobachtet die Kamera die handelnden Figuren, wahrt häufig eine gewisse Distanz zu ihnen. Es dominieren lange, oft starre Einstellungen. Musik wird sparsam eingesetzt. Und mit dramatischen Entwicklungen geizt der Film ganz bewusst. Erst im letzten Akt zieht das Erzähltempo etwas an. Ein Gefühl für die präsentierte Welt, für dieses von der Gegenwart nur einen Steinwurf entfernte Japan bekommen wir durchaus. Manche Dinge indes werden lediglich angedeutet, bleiben vage. In einer Szene sehen wir zum Beispiel, dass sich in der Bevölkerung zumindest etwas Protest gegen Plan 75 regt. Nicht alle stehen hinter der radikalen Maßnahme der Regierung, das System mittels begleiteter Selbsttötungen zu entlasten. Ein bisschen konkreter hätte es an dieser Stelle gerne werden dürfen.

Präzise und frei von jeder Hektik macht das Science-Fiction-Drama die Resignation, die Isolation und die Ratlosigkeit vor allem der alten Menschen greifbar. Durchbrochen wird das gespenstische Bild einer Gesellschaft, in der Bürger ab 75 keinen großen Wert mehr haben, allerdings von gelegentlichen Humorfarbtupfern und kleinen Hoffnungsschimmern. Einer Gruppe rüstiger Damen beim Karaoke zuzusehen, ist wahrlich herzerwärmend. Köstlich auch, wie Hayakawa die Absurditäten des bürokratisch durchorganisierten Programmapparats einfängt. Wirken die Gespräche über den Tod doch so, als buchten die Interessierten bloß eine Urlaubsreise. Sicher nicht von ungefähr schaut Michi, während sie die Hände schützend über ihre Augen hält, zudem wiederholt der Sonne entgegen. Momente wie diese entfalten zum Teil eine ungeahnte Wucht und sind Grund genug, Geduld aufzubringen, sich auf den bedächtigen Rhythmus von „Plan 75“ einzulassen.

Christopher Diekhaus