Längst hat sich Yorgos Lanthimos zu einem Regisseur entwickelt, bei dem jedes neue Werk heiß ersehnt wird – weil er filmisch in Abgründe führt und Geschichten erzählt, die weit abseits des Mainstreams sind. So auch die Romanverfilmung „Poor Things“, in der eine Art Frankenstein eine Frau zum Leben erweckt, die sich gegen das Korsett der Gesellschaft auflehnt. Ein delirierend schöner Film mit einer herausragenden Emma Stone in der Hauptrolle.
Webseite: https://www.disney.de/
USA 2023
Regie: Yorgos Lanthimos
Buch: Tom McNamara
Darsteller: Emma Stone, Willem Dafoe, Hanna Schygulla
Länge: 141 Minuten
Verleih: Walt Disney Germany
Kinostart: 18. Januar 2024
FILMKRITIK:
Bella wurde von Dr. Godwin Baxter wieder zum Leben erweckt, ist aber geistig auf dem Niveau eines Kindes. Erst langsam entwickelt sie sich – hin zu einer jungen Frau mit eigenen Wünschen und Bedürfnissen, die nicht länger die Gefangene des Mannes sein will, den sie nur „God“ nennt und der ihr auch einen Mann ausgesucht hat, mit dem sie ihm niemals entkommen kann. So nutzt sie die Chance, God mit einem anderen Mann zu verlassen und sich zu entfalten. Als eine Frau, die unangepasst ist und die eigene Lust nicht verheimlicht, sondern sie geradezu zelebriert.
„Poor Things“ ist ein Film von immenser Schönheit – so prachtvoll, dass fast die Worte fehlen. Weil Yorgos Lanthimos eine Künstlichkeit erschaffen hat, die mit der seiner Hauptfigur harmoniert. Sein Film wirkt meist wie eine märchenhafte Version des Theaters. Das Bühnenbild ist opulent, verspielt, eigensinnig, herausfordernd. Die Bilder – jenseits von dieser Welt, so etwa das Schiff, auf dem Bella unterwegs ist und dessen Dampf grün in den Himmel aufsteigt.
Anfangs ist der Film fast nur schwarzweiß, mit der Emanzipation der Hauptfigur wird er vollends farbig. Was zuerst eine Reminiszenz an die alten „Frankenstein“-Filme von Universal gewesen sein mag, wird dann zu einem Bildersturm, an dem man sich gar nicht sattsehen kann. Der Film ist optisch brillant, auch und gerade, weil immer wieder mit Linsen aufgenommen wurde, die das Bild verdrehen und verzerren. Aber er ist inhaltlich noch viel umwerfender.
Weil er philosophisch die großen Fragen des Lebens angeht. Er fordert die Gesellschaft und ihre Regeln heraus, die das Normale abnorm erscheinen lassen, er spielt mit der Frage der Moral und geht der größten aller Fragen nach – der nach dem Sinn des Lebens selbst, indem er Bella auf eine Reise schickt, auf der sie sich selbst entdeckt. Sie bleibt sich immer treu, sagt, was sie denkt und lässt alle Eitelkeit und alle falsche Scham fallen. Bella Baxter ist eine emanzipierte Frau in einer Welt des allumfassenden Patriarchats. Jeder Mann, dem sie begegnet, will sie besitzen oder beherrschen, doch am Ende ist es Bella, die triumphiert.
In dem sie sich dem zivilisatorischen Korsett entzieht, ihrer Lust frönt und allen Erwartungen zuwiderläuft. Das macht „Poor Things“, dessen Romanvorlage vor 30 Jahren erschien, zu einer ausgesprochen modernen Erzählung, bei der Yorgos Lanthimos den Blick nie verhüllt. Er hat Emma Stone zu einer Darstellung verführt, die in ihrer Vielschichtigkeit, Komplexität und Kühnheit eigentlich nur eines bedeuten kann – dass die Schauspielerin, die mit Lanthimos gleich im Anschluss an die Dreharbeiten einen weiteren Film umgesetzt hat, sich nach dem Oscar-Gewinn für „La La Land“ und die Nominierung für „The Favourite“ erneut Chancen ausrechnen darf.
Peter Osteried