Radiance

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Die Japanerin Naomi Kawase reüssiert regelmäßig im internationalen Wettbewerb von Cannes. Nachdem dort unter anderem ihr meisterhafter Jugendfilm „Still the Water“ (2014) und der gefühlige „Kirschblüten und rote Bohnen“ (2015) liefen, war „Radiance“ 2017 bereits ihr siebter Cannes-Beitrag. Die zart erzählte und schön bebilderte (Liebes-)Geschichte einer jungen Frau und eines älteren Manns, die persönliche Tragödien durchleben, lebt von der feinen, nur gelegentlich überzogenen Bildpoesie und den einnehmenden Hauptdarstellern Ayame Misaki („HK: Hentai Kamen – Abnormal Crisis“) und Masatoshi Nagase („Paterson“). Nicht zuletzt überzeugt das nachdenkliche Drama als lichtdurchflutete Hommage an das Kino selbst.

Webseite: radiance-film.de

OT: Hikari
Japan 2017
Drehbuch, Regie: Naomi Kawase
Darsteller/innen: Ayame Misaki, Masatoshi Nagase, Tatsuya Fuji, Mantarô Koichi, Noémie Nakai, Kazuko Shirakawa
Laufzeit: 101 Min.
Verleih: Concorde Filmverleih
Kinostart: 14. September 2017

FILMKRITIK:

Misako (Ayame Misaki) fertigt Audiodeskriptionen für Filme an. In regelmäßigen Feedbackrunden mit Blinden gleicht sie ihre Beschreibungen mit der Wahrnehmung der Zielgruppe ab. Wie viel muss sie vom Leinwandgeschehen in Sprache rückübersetzen, um die Fantasie der Blinden anzuregen? Und ab welchem Punkt schränken zu detaillierte Beschreibungen die Vorstellungskraft des Publikums ein? Weil sie ihren Job sehr gewissenhaft ausübt, ist Misako ziemlich lost in translation.
 
Während die meisten Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Feedbacktreffen höchstens verhaltene Verbesserungsvorschläge äußern, übt Herr Nakamori (Masatoshi Nagase) harsche Kritik an Misakos Entwürfen. Der Fotograf verfügt noch über einen letzten Rest Sehkraft, die langsam schwindet. Die kritischen Anmerkungen drücken also auch das Unbehagen über sein tragisches Schicksal aus. Misako kann die Kritik auch deshalb nicht so einfach wegstecken, weil sie ebenfalls emotional angeschlagen ist: Ihre Mutter leidet an Demenz und den vor Jahren bei einer Bergwanderung verschwundenen Vater vermisst sie bis heute.
 
Eigentlich scheint von Anfang an durch, dass sich Misako und Nakamori gegenseitig stützen können und zwischen den beiden Liebe möglich ist. Doch bis es dazu kommt, müssen sie ihre je eigenen Problemfelder bewältigen. „Radiance“ ist kein Liebesfilm im klassischen Sinn, denn Naomi Kawase hält die Verliebtheit in der Schwebe und legt das Augenmerk auf die Lebensumstände und Schicksalsschläge der Protagonisten.
 
In manchen Momenten streift das Drama knapp am Kitsch vorbei, überschreitet die Grenze zum Banalen aber nie; anders als der Film im Film, den wir eine ganze Weile hauptsächlich über Misakos Audiodeskription vermittelt bekommen und dessen Bilder am Ende arg auf Kunst getrimmt erscheinen. Etwas unausgegoren wirkt auch der Nebenplot um Misakos demente Mutter und ihren verschwundenen Vater, der nur am Anfang und am Ende eine Rolle spielt. Das trübt den cineastischen Zauber dieser wunderschön gefilmten und sanft erzählen Filmperle aus Fernost aber kaum.
 
Wie immer nutzt Kawase die Bandbreite des filmischen Erzählens und erzählt viel über die Bilder. Licht spielt hierbei eine besondere Rolle. Auch wenn Nakamori kaum mehr sehen kann, hängt an seinem Wohnungsfenster ein Lichtspiel, das Regenbogenfarben auf die Wände und sein Gesicht wirft. Die Melancholie, die Nakamori wie das Publikum wegen der schwindenden Sehkraft des Fotografen befällt, wird so auf unaufdringliche Weise unterstrichen (man denkt an den Autorenfilmer Derek Jarman, der sein Augenlicht ebenfalls verlor und seine Verzweiflung darüber im bedrückenden Experimentalfilm „Blue“ ausdrückte). Sonnenuntergänge, das Rascheln der Bäume im Wind, dezente Klaviermusik. All das prägte bereits Kawases flirrendes Jugenddrama „Still the Water“ und zeichnet auch „Radiance“ aus, der zudem stilvoll mit Unschärfen arbeitet.
 
Abermals inszeniert Naomi Kawase ein ungemein gefühlvolles und sehr sinnliches, kunstvoll gefilmtes und überzeugend gespieltes Drama. Wenn Misako einen kleinen Sticker mit Kükenmotiv auf Nakamoris Gewürzstreuer klebt, damit er Salz von Pfeffer unterscheiden kann, oder der schließlich komplett erblindete Fotograf ihr Gesicht betastet, ist das romantischer als ein konventioneller Filmkuss. „Nichts ist schöner als das, was vor unseren Augen verschwindet,“ lautet ein Schlüsselsatz der Geschichte.
 
Christian Horn