Radical – Eine Klasse für sich

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Eine echte Bereicherung des Schulfilm-Genres, das kürzlich durch den sensationellen deutschen Oscar-Beitrag „Das Lehrerzimmer“ von İlker Çatak aufgewertet wurde. „Radical“, der Siegerfilm des Publikumspreises auf dem Sundance Festival, spielt an einer Grundschule im krisengeschüttelten Mexico nahe der US-Grenze. Der Vollblutkomödiant Eugenio Derbez („Overboard“, 2018) spielt den exzentrischen Lehrer Sergio, der mit seinen ungewöhnlichen Methoden für Aufruhr an seiner neuen Schule sorgt.
Der Film ist so komisch und traurig wie das Leben, er beschönigt nichts – der kenianische Regisseur und Autor Christopher Zalla hat aus einer wahren Geschichte einen wahrhaftigen Film gemacht, der gekonnt auf dem schmalen Grat zwischen leichter Komödie und herzzerreißendem Drama balanciert.

Webseite: https://ascot-elite.de/
USA 2023
Regie: Christopher Zalla
Drehbuch: Christopher Zalla, Joshua Davis
Darsteller: Eugenio Derbez, Daniel Haddad, Gilberto Barraza, Jennifer Trejo, Mia Fernandez Solis, Danilo Guardiola, Victor Estrada, Enoc Leaño, Manuel Cruz Vivas
Kamera: Mateo Londoño
Musik: Pascual Reyes, Juan Pablo Villa
Länge: 122 Minuten
Verleih: Ascot Elite
Start: 21.03.2024

FILMKRITIK:

Im Mittelpunkt stehen hier die Kinder, die in Matamoros, einer Küsten- und Grenzstadt zu den USA, in einer Spirale von Armut, Korruption und Gewalt aufwachsen. Folglich beginnt der Film, der im Jahr 2011 spielt, auch mit kleinen Szenen, in denen drei Kinder näher vorgestellt werden: Der 12-jährige Nico arbeitet schon als Drogenkurier für seinen großen Bruder. Seine Karriere als Gangster scheint vorherbestimmt. Paloma, Nicos Schwarm, wächst in einer ärmlichen Hütte am Rande der Abfalldeponie allein bei ihrem Vater auf. Er ist Schrottsammler, und Paloma hilft ihm. Die zierliche Lupe muss sich um ihre jüngeren Geschwister kümmern, weil ihre Mutter mit der Kindererziehung überfordert ist.
Alle drei Kinder kommen nach den Sommerferien in die Schule zurück. Ihre Überraschung ist groß, als sie ihren neuen Klassenlehrer kennenlernen: Sergios Methoden sind ebenso ungewöhnlich wie sein Verhalten. Er hält überhaupt nichts von Lehrplänen und ödem Frontalunterricht. Stattdessen fordert er die Kids auf, Fragen zu stellen und alles Mögliche selbst auszuprobieren. Sie sollen üben, selbständig zu denken und sich den Lernstoff durch Versuch und Irrtum selbst anzueignen. Sergios revolutionäre Ansichten stoßen anfangs nicht nur bei den Kindern, sondern auch bei den übrigen Lehrkräften und beim Direktor auf Unverständnis. Zusätzlich muss sich Sergio mit immer wieder neuen Problemen befassen: Im Computerraum gibt es keinen Computer, und für den Besuch der Schulbibliothek soll er die Kinder einen Tag vorher anmelden.
Doch Sergio lässt sich nicht unterkriegen, er glaubt fest daran, dass alle Kinder eine Chance bekommen sollten, um ihre Träume zu verwirklichen. Und so entdeckt er mit ihnen gemeinsam ihre Talente: Paloma entpuppt sich als Mathe-Genie. Lupe verschlingt Philosophiebücher und beschäftigt sich mit anspruchsvollen ethischen Problemen, während Nico seine handwerkliche Begabung weiterentwickelt. In Sergios improvisiertem Unterricht entfalten sich die Potenziale der Kinder. Aber wie ein Damoklesschwert hängt die alljährliche Kenntnisprüfung über ihren Köpfen, bei der die Kinder der Jose Urbina Lopez-Grundschule in Matamoros regelmäßig die schlechtesten Leistungen von ganz Mexico erbringen …
Christopher Zalla entwirft gleich zu Beginn ein düsteres Bild vom Leben der Kinder in Matamoros: eine verwahrloste Stadt, in der Drogen, Gewalt und Verbrechen an der Tagesordnung sind. Auf ihrem morgendlichen Schulweg passieren die Kids schon mal die Leichen aus den Schießereien der vergangenen Nacht. Viele Kinder leben in großer Armut in Elendsquartieren, und sie sind es gewöhnt, dass sie von Erwachsenen entweder zusammengestaucht oder gar nicht beachtet werden. Umso verwirrter reagieren sie, als sie dem Motivationskünstler Sergio Juarez begegnen, der sie ernst nimmt und offenbar wirklich davon überzeugt ist, dass seine ganze Klasse aus klugen und vernünftigen Kindern besteht, die nur darauf warten, endlich zeigen zu dürfen, was sie können. Sie arbeiten im Team an Projekten – und das sind wunderbare Szenen, in denen sich nicht nur die Herzen von Lehrerinnen und Lehrern öffnen. Die Kinder spielen ihre Rollen sehr glaubwürdig und natürlich, was ein großer Verdienst einer durchdachten und liebevollen Regiearbeit ist. Eugenio Derbez gibt alles – als Schauspieler wie als Lehrer; wie ein Schachtelteufelchen springt er mal hier, mal dort herum. Sein Sergio versucht mit ganzer Kraft, trotz aller Widrigkeiten irgendwie die Kontrolle über sein eigenes Werk zu behalten und seine Vorstellung eines ganzheitlichen Lernens durchzusetzen. Das gelingt ihm mit der Zeit immer besser, er kann sogar den konservativen Schuldirektor auf seine Seite ziehen.
Doch gerade als der Film auf dem besten Wege zur Wohlfühlkomödie ist, öffnet Christopher Zalla mal eben die Tür zur harschen Realität. Die folgende dramatische Entwicklung verstärkt die Wirkung des Films, sie veredelt ihn gleichsam. Denn hier geht es eben nicht darum, ein cooles, witziges Erfolgsrezept zu zeigen, mit dessen Hilfe alle glücklich werden. Also nix mit Friede, Freude, Eierkuchen. Diese Geschichte ist tatsächlich passiert, und das bedeutet auch, dass Drama, Tragik und Komik manchmal sehr dicht beieinanderliegen. So ist das Leben und so war es wirklich, damals im Jahr 2011. Den Lehrer Sergio und das Mathe-Genie Paloma gibt es wirklich, ebenso wie die Jose Urbina Lopez-Grundschule in Matamoros. Und die hat übrigens bis heute keinen Computerraum.

Gaby Sikorski