Räuberhände

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Mit seinem Roman „Räuberhände“ von 2007 traf Finn-Ole Heinrich den Sound der Jugend: frech, lässig, locker. Das filmisch strukturierte Buch bietet sich für die Leinwand geradezu an, denn Heinrich hat selbst Regie studiert. Trotzdem hat sich – in Kooperation mit Heinrich – ein anderer Regisseur des Stoffs angenommen. Im freien Umgang mit der Vorlage inszeniert İlker Çatak ein flottes, sexuell unverblümtes Abenteuer um eine große, prägende Jungsfreundschaft.

Website: http://www.salzgeber.de/raeuberhaende

Deutschland 2020
Regie: İlker Çatak
Drehbuch: Gabriele Simon, Finn-Ole Heinrich
Darsteller: Emil von Schönfels, Mekyas Mulugeta, Katharina Behrens, Nicole Marischka, Godehard Giese
Länge: 92 Minuten
Verleih: Salzgeber
Kinostart: 2. September 2021

FILMKRITIK:

Eine Holzhütte am Waldrand: Garten, Schlafplatz, freier Blick über grüne Hügel. Draußen pflanzt Samu (Mekyas Mulugeta) einen Feigenbaum, drinnen knutscht Janik (Emil von Schönfels) mit seiner Freundin. „Salam aleikum“, sagt Samu, als er den Vorhang vor dem Bett des Paares zurückzieht und die Intimität stört. Nur um sein Hemd zu holen? Oder aus Eifersucht? Das muss offen bleiben in der sommerlich-sinnlichen Szene. Die Freundin jedenfalls ist pikiert, als Janik das Liebesspiel wieder aufnehmen will. „Mach‘ doch mit Samu rum“, protestiert sie und geht. Tatsächlich sieht man die beiden Jungs herumtollen, raufen, einander wie selbstverständlich anfassen. Alles scheint möglich für die frisch gebackenen Abiturienten, denen die Welt offensteht. Nach Istanbul wollen sie, wo Samu seinen unbekannten Vater vermutet. Die vibrierende Stadt erkunden, vielleicht auch einen Teil der eigenen Wurzeln, jedenfalls frei sein, sich erkunden jenseits aller Grenzen.

Ist die enge Beziehung der Brüder im Geiste homoerotisch aufgeladen? Könnte sein. Es interessiert aber nicht und bleibt ungeklärt, weder im Film noch in der Buchvorlage gleichen Titels, dem erfolgreichen und auch in Schulen gelesenen Jugendroman von Finn-Ole Heinrich, der auch am Drehbuch mitgeschrieben hat. Was interessiert, ist der Stellenwert von Freundschaft, die im Falle von Samu und Janik einen tiefen, beinahe nicht zu kittenden Bruch erleidet und die die beiden trotz allem zu retten versuchen. Das ist umso bemerkenswerter, als die sozialen und familiären Hintergründe kaum unterschiedlicher sein könnten. Janiks linksliberale Eltern scheinen alles richtig zu machen. Sie haben Samu wie einen zweiten Sohn bei sich aufgenommen, weil der es mit seiner alkoholkranken Mutter nicht mehr aushält. So unterschiedlich die Herkunft, so gegenläufig die Sehnsüchte. Janik liebt das Verrückte, Ungeordnete, Kaputte an Samus Mutter Irene (Katharina Behrens), die ihn auch erotisch anzieht. Halbtürke Samu mag es gern aufgeräumt, zuverlässig und verbindlich.

Angekommen in Istanbul, lässt Judith Kaufmanns dynamische Handkamera verlockende Postkartenansichten links liegen und behält die lebenshungrige Perspektive der jungen Abenteurer bei. Der Film interessiert sich für spontane Männertänze auf der Straße, für die Musik vor der Haustür, für das Herumlungern am Ufer des Bosporus. Immer lässt er auch die gefährliche Seite der spontanen Freundlichkeit mitschwingen: halblegale Geschäfte, undurchsichtige Machenschaften, ein windiges Kontaktnetz, das mit ein bisschen Bestechung fast jedes Problem regelt. Samu, von seiner Sozialisation her eigentlich so deutsch wie Janik, hat vor der Reise die wichtigsten Brocken Türkisch gepaukt. Aber macht ihn das, inklusive dunklem Teint und schwarzen Locken, schon zu einem Mann vom Bosporus?

„Räuberhände“ verzichtet auf die verschachtelte Erzählstruktur des Romans mit seinen Rückblenden und Parallelmontagen. Regisseur İlker Çatak entschlackt die Vorlage zugunsten eines geradlinigen Aufbaus, der Tempo und Action begünstigt. Das macht die ab 16 freigegebene Literaturverfilmung besonders für Jugendliche und Kinder (dann in Begleitung ihrer Eltern) attraktiv. Da in der Geschichte aber auch Themen wie Migration, Identität und Familienstrukturen mitschwingen, funktioniert das mit leichter Hand inszenierte Sommerabenteuer auch für Erwachsene. İlker Çatak ist in Berlin geboren, lebte acht prägende Jahre (von zwölf bis 20) in Istanbul und kehrte zum Filmstudium nach Berlin und Hamburg zurück. Er weiß, wovon er spricht, wenn er die Türkei mit deutschen und Deutschland mit türkischen Augen betrachtet. Insofern macht er da weiter, wo er mit seinem mehrfach preisgekrönten zweiten Film „Es gilt das gesprochene Wort“ (2019) aufgehört hatte.

Peter Gutting