Revision

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1992 werden zwei Asylsuchende aus Rumänien auf einem offenen Feld in Mecklenburg-Vorpommern erschossen. Bis heute sind Täter und Umstände nicht zweifelsfrei ermittelt. Filmemacher Philip Scheffner untersucht den Fall mit filmischen Mitteln. Er zeigt die kalte Gleichgültigkeit der deutschen Behörden angesichts dieser Tragödie und überzeugt mit einem formalen Konzept, das gleichzeitig verfremdet und den Kern der Geschichte offenlegt. Der Film feierte seine Premiere im Forum der Berlinale 2012.

Webseite: www.realfictionfilme.de

Deutschland 2012
Regie: Philip Scheffner
Buch: Philip Scheffner, Merle Kröger
Länge: 106 Minuten
Verleih: RealFiction
Kinostart: 13. September 2012

PRESSESTIMMEN:

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FILMKRITIK:

29. Juni 1992: Zwei Mähdrescherfahrer entdecken in einem Gerstenfeld in Mecklenburg-Vorpommern die Leichen von Grigore Velcu und Eudache Calderar. Die beiden rumänischen Staatsbürger wurden bei dem Versuch, auf deutsches Staatsgebiet zu gelangen, erschossen. Ermittlungen ergeben, dass zum Tatzeitpunkt drei Jäger in der Nähe des Feldes auf der Pirsch waren. Diese geben an, auf Wildschweine geschossen zu haben. Zwei von ihnen werden verhaftet, aber wenige Tage später wieder freigelassen. Erst drei Jahre später kommt es zu einem Prozess, der nach nur einem Verhandlungstag wegen fehlender kriminaltechnischer Gutachten vertagt wird. Die Fortsetzung des Verfahrens lässt weitere drei Jahre auf sich warten, wieder wird ohne Ergebnis vertagt. 2002 stellt das Gericht das Verfahren schließlich endgültig ein, ohne einen Täter ermittelt zu haben. Obwohl die Adressen der Familien der Toten in Rumänien bekannt waren, wurdern sie nie über den Prozess in Deutschland informiert.

Philip Scheffner machte 2007 und 2010 mit den experimentellen Dokumentarfilmen „The Halfmoon Files“ und „Der Tag des Spatzen“ auf sich aufmerksam. In letzterem stellte er filmisch eine Verbindung her zwischen dem Alltag von Vögeln und dem Bundeswehr-Einsatz in Afghanistan. Auch hier schon verband er eine freie, experimentelle Form mit einem dezidiert politischen Anliegen. „Revision“ nimmt sich einer scheinbar klareren Geschichte an, einer Geschichte, die den Zuschauer emotional involviert. Aber Scheffner liegt nicht daran, beim Publikum Knöpfe zu drücken und Empörung hervorzurufen. Von der herkömmlichen Dramaturgie einschlägiger TV-Dokus hält er sich fern. Sein Ansatz geht weit darüber hinaus: Die filmische Form selbst wird zum Spiegel sowohl der Komplexität der Ereignisse als auch des Prozesses ihrer Inszenierung. Scheffner hält den Zuschauer auf Distanz und schafft einen Reflexionsraum. Scheffners Film wirkt wie die extreme Nahaufnahme eines Zeitungsfotos, die nur einzelne Rasterpunkte zeigt, dann langsam zurückzoomt und ganz langsam das eigentliche Bild entstehen lässt – in diesem Fall ein geisterhaftes Foto, das eine an der Oberfläche unsichtbare Gleichgültigkeit und Kälte sichtbar macht.

Scheffner setzt bei der Rekonstruktion der Geschichte immer wieder neu an, sucht eine verwirrende Vielzahl von Anfängen und Fluchtpunkten. Die Interviews mit den Familien und Freunden der Opfer, mit dem Rechtsanwalt eines Jägers, einem Gerichtsmediziner, Polizisten und einem Staatsanwalt ergeben ein disparates Bild voller Widersprüche. Dazu zeigt Scheffner selten die Interviews selbst, sondern filmt seine Gesprächspartner dabei, wie er ihnen ihre Aussagen als Tonbandaufnahme vorspielt. Er experimentiert sogar mit seinem Kameramann, um die exakten Lichtverhältnisse zur Tatzeit nachzustellen. Bei seinem Versuch, die tatsächlichen Ereignissen ganz exakt zu ermitteln, scheinen sie Scheffner immer mehr zu entgleiten. Nach und nach verdichtet sich aber das Netz aus Details und Bildern, selbst Landschaft und Windkraftanlagen laden sich mit Bedeutung auf.

Auch emotional involviert Scheffner den Zuschauer immer mehr, denn seine Recherchen fördern ungeheure Details ans Tageslicht. Erstmals gibt er überhaupt den Familien der Opfer die Möglichkeit, ihre Geschichte zu erzählen. Die beiden Ehefrauen mussten nach dem plötzlichen Tod der Männer ihre bis zu fünf Kinder allein durchbringen. Griogore Velcus Leiche wurde völlig nackt in einer Holzkiste von Deutschland nach Bukarest geflogen. Und niemand bei den deutschen Behörden hielt es für nötig, die Familien über Tatumstände und Prozessbeginn zu informieren. Die Familien hätten vor Gericht schließlich keine Rolle gespielt, gibt der Staatsanwalt trocken zu Protokoll. Sie wurden auch nicht darüber aufgeklärt, dass sie über die Haftpflichtversicherungen der beiden Angeklagten Schmerzensgeldforderungen hätten stellen können. Den ungeklärten Tod zweier Menschen, so scheint es, nahm die frisch wiedervereinigte Bundesrepublik achselzuckend hin, weil es sich „nur“ um illegale Einwanderer handelte.

Oliver Kaever

Am 29.Juni 1992 werden in der Nacht zwischen drei und vier Uhr unweit der deutsch-polnischen Grenze zwei Menschen erschossen. Der eine ist sofort tot, der zweite lebt noch kurze Zeit. Es sind rumänische Staatsbürger. Was sie zu dieser Zeit dort machten, ist nicht klar. Ein Bauer findet sie.

Es stellt sich heraus, dass sie von Jägern erschossen wurden, die sie, wie sie angeben, für Wildschweine hielten. Flüchtlinge und Schleuser haben das Drama aus der Ferne miterlebt.
Die Justiz schaltet sich ein. Es wird offenbar schlampig ermittelt. Nach vier Jahren der erste Prozesstag. Dann Vertagung um weitere Jahre. Mehrere Gutachten werden eingeholt – über die Munition beispielsweise oder über die Ferngläser der Jäger (wobei festgestellt wird, dass mit diesen Ferngläsern und aus dieser Entfernung Menschen nicht mit Wildschweinen zu verwechseln waren). Freispruch.

Die rumänischen Angehörigen wurden nur über den Tod unterrichtet, über nichts anderes. Sie wurden am Justizverfahren nicht beteiligt. Sie haben nie die geringste Entschädigung erhalten. Etwa weil es sich um Roma handelt? Wie wäre es denn ausgegangen, wenn Roma Deutsche erschossen hätten?

Das zehn Jahre dauernde Verfahren ist rechtskräftig abgeschlossen.

Die „Revision“ nimmt dieser Dokumentarfilm vor. Es werden die betroffenen Familien aufgesucht und befragt; deren Trauer ist auch nach 20 Jahren noch groß. Es wird ermittelt bei Bekannten und Freunden, bei behördlichen Stellen, bei der Justiz, bei einem Anwalt, bei einem Richter - minutiös und immer wieder. 106 Minuten lang.

Ein Kapitel des Films ist rechtsextremistischen Ausschreitungen gegen Asylanten im Gebiet Rostock gewidmet, ein unmissverständlicher und notwendiger Appell gegen Fremdenfeindlichkeit.

Tatmotiv, Tathergang, Täter, politische, rassistische oder illegal-kriminelle Umstände – nichts konnte zweifelsfrei geklärt werden. Aber das Wichtigste und Richtigste bei alledem ist der Geist, aus dem dieser die juristische Tragödie ergänzende und bis zu einem gewissen Grade auch bloßstellende Film entstanden ist, sowohl was die rechtliche als auch die menschliche Seite betrifft.

Die interessante, von Regisseur Philip Scheffner wohlbegründete Filmmontage kommt noch dazu.

Ein unerbittliches, beklemmendes und trauriges Dokument.

Thomas Engel