Scarred Hearts – Vernarbte Herzen

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Für seine abenteuerliche Tragikomödie „Aferim!“ erhielt der rumänische Filmemacher Radu Jude 2015 den Silbernen Berlinale-Bären für die Beste Regie. Sein neuer Film gewann im Zuge seiner Weltpremiere auf dem 69. Filmfestival von Locarno den Spezialpreis der Jury. Das Drama nach der autobiographischen Erzählung „Vernarbte Herzen“ des rumänisch-jüdischen Autors M. Blecher (1909-1938) spielt in einem rumänischen Sanatorium in den 1930er-Jahren, wo ein junger Mann gegen eine schwere Krankheit kämpft. Als Co-Produzentin der zweieinhalbstündigen Literaturadaption fungierte die mehrfach preisgekrönte „Toni Erdmann“-Macherin Maren Ade.

Webseite: www.realfictionfilme.de

Rumänien, Deutschland 2016
Regie: Radu Jude
Drehbuch: Radu Jude nach dem Roman von M. Blecher
Darsteller: Lucian Teodor Rus, Ivana Mladenovic, Serban Pavlu, Gabriel Spahiu, Sofia Nicolaescu, Dana Voicu, Bogdan Cotlet
Laufzeit: 141 Min.
Verleih: Real Fiction
Kinostart: 9. Februar 2017

FILMKRITIK:

Rumänien 1937: Der Tod schwingt in dem Krankenhaus am Schwarzen Meer immer mit, wo der 20-jährige Emanuel (Lucian Teodor Rus) von seinem Kaufmannsvater abgeliefert wird. Geistig ist Emanuel fit, doch seine Knochentuberkulose und eine Entzündung der Wirbelsäule fesseln ihn mit eingegipstem Oberkörper ans Krankenhausbett. Doch obwohl die gut betuchten Mitpatienten mit ähnlich harten Schicksalen hadern, bleibt im Sanatorium Platz für Lebensfreude. Dank seinem fahrenden Bett kann Emanuel sogar Ausflüge an den Strand unternehmen. Mitten im Elend verliebt er sich in die Serbin Solange (Ivana Mladenovic), die der Klinik weiter verbunden bleibt, als sie gesund entlassen wird.
 
Für seine Adaption hat Radu Jude die Romanhandlung des 29-jährig verstorbenen M. Blecher von Frankreich nach Rumänien verlegt und unterfüttert den Plot mit der gesellschaftspolitischen Lage seines Heimatlands zwischen den beiden Weltkriegen. Während Emanuel sein Leiden kuriert, zeichnet sich mit dem Machtausbau der Nazis und dem auch in Rumänien um sich greifenden Nationalismus bereits der Zweite Weltkrieg ab. Emanuel führt mit den kulturell bewanderten Patienten Gespräche über Politik, Antisemitismus, die Diskriminierung von Roma und Juden, aber auch Lyrik und Sex. Das Sanatorium avanciert – ähnlich wie das Gebirgssanatorium aus Thomas Manns „Zauberberg“ – zum Mikrokosmos europäischer Befindlichkeiten
 
Immer wieder unterbrechen Textpassagen die Handlung, die Briefe von M. Blecher und Auszüge aus seinem Roman direkt zitieren, was auf den ersten Blick etwas prätentiös erscheint, doch die Figurenzeichnung letztlich bereichert. Stilistisch referiert das nostalgische 4:3-Format mit abgerundeten Ecken auf die Handlungszeit, die auch dank der sorgfältigen Ausstattung und den akkuraten Kostümen glaubwürdig erscheint. Dem Kameramann Marius Panduru gelingt eine eigenwillige Ästhetik, die Radu Jude in langen, statischen, fast schon kontemplativen Einstellungen wirken lässt. Mit kafkaesken Momenten und einem feinen Sinn für Ironie erweist sich der auch darstellerisch gelungene „Scarred Hearts“ als schwermütiges, aber keineswegs depressives und vielschichtiges Arthouse-Drama aus Osteuropa.
 
Christian Horn