Sergej in der Urne

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Das Leben des Urgroßvaters von Filmemacher Boris Hars-Tschachotin liest sich wie ein Abenteuerroman, und doch ist alles wahr. Sergej Stepanowitsch Tschachotin (1883-1973) war ein führender Physiker seiner Zeit, Freund von Einstein und Pawlow, gleichzeitig als leidenschaftlicher Sozialist und glühender Antifaschist maßgeblich als Wahlkampfstratege der SPD in der Endphase der Weimarer Republik am Wahlkampf gegen die NSDAP beteiligt. Er überlebte 1902 als Student den Aufstand gegen den Zaren, 1908 auf Sizilien das legendäre Erdbeben und später in Frankreich die Internierung durch die Nazis. Sein ruheloses Leben, gezeichnet von Flucht und finanziellen Problemen, spiegelt sich auch in seinem Privatleben wider: Fünf Ehefrauen und acht Söhne hatte Sergej in den 90 Jahren seines Lebens. Mit vier seiner Söhne versucht nun sein Urenkel die längst überfällige Bestattung der Urne zu planen. Doch der Wunsch nach Familienzusammenführung fällt bei den alten Männern auf keinen fruchtbaren Boden. Privates und Politisches vermengt sich bei diesem faszinierenden Familienporträt zu einer ungemein schillernden Chronik des letzten Jahrhunderts.

Webseite: www.sergej-in-der-urne.de

D 2010
Regie: Boris Hars-Tschachotin
Kinostart: 23.2. 2012
Verleih: FilmKinoText

PRESSESTIMMEN:

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FILMKRITIK:

Ein Jahrhundert im Spiegel einer persönlichen Biographie. Der Berliner Filmemacher Boris Hars-Tschachotin entdeckt bei einem Besuch seines Großvater Eugen in Paris die Urne seines Urgroßvaters Sergej Stepanowitsch Tschachotin (1883-1973). Eigentlich sollte die Asche schon längst ihrer letzte Ruhestätte gefunden haben, doch die Beerdigung gestaltet sich kompliziert. Zu viele enge Verwandte sind in die Lebensgeschichte des Verstorbenen eingebunden. Im Laufe seiner 90 Jahre hatte Sergej fünf mal geheiratet und sich fünf mal scheiden lassen. Acht Söhne wurden ihm geboren, vier davon sucht sein Urenkel im Laufe der Dreharbeiten auf, um mit dem Wunsch nach Versöhnung die weit verstreute Familie zusammenzubringen und den letzten Willen Sergejs zu erfüllen, der seine Asche an der Küste Korsikas ins Meer gestreut wissen wollte.
Doch die Gespräche mit den vier Söhnen gestalten sich unerwartet schwierig. Der Urenkel gerät in einen Strudel familiärer Abgründe, in denen sich private Schicksale und weltpolitische Ereignisse bei den Beteiligten zu einer komplizierten Gemengelage vereinen.

Während der Filmemacher nun an vier Fronten gleichzeitig ringt, fächert der Film parallel die schillernde Biographie seines Urgroßvaters auf. Als Sohn eines russischen Diplomaten in Konstantinopel geboren, beteiligt sich der junge Student 1902 an den revolutionären Unruhen in St. Petersburg gegen den Zaren. Sergej überlebt die Niederschlagung durch die zaristischen Truppen, muss das Land aber verlassen. Nach mehreren Stationen, darunter auch Deutschland, wird er im Exil auf Sizilien während des verheerenden Erdbebens von 1908 mit seiner jungen Familie verschüttet, alle überleben auf wundersame Weise. 1913 kehrt er nach Russland zurück, macht als Mediziner und Biologie Karriere und erfindet das Strahlenskalpell, eine bahnbrechende Entwicklung auf dem Weg zur Lasertechnologie in der modernen Medizin. Er wird Mitarbeiter des Nobelpreisträgers Iwan Pawlow und später Freund von Albert Einstein. Als überzeugter Sozialist ist er ein begeisterter Anhänger der Oktober-Revolution und dann, angesichts der Dominanz der Bolschewisten, wandelt er sich zum entschiedenen Gegner. Wieder bleibt nur das Exil, diesmal gelangt er über Umwege nach Deutschland, wo er eine Forschungsstelle in Heidelberg, beim späteren Max Plank Institut bekommt. Weiterhin politisch aktiv, versucht er die Mechanismen der Massenmanipulation, welche die Nazis so meisterlich beherrschen, im Wahlkampf der SPD einzusetzen. So kreierte er 1930 das Symbol der Drei Pfeile als Antwort der sozialdemokratischen Eisernen Front zum Hakenkreuz. Seine theoretischen Arbeiten zur politischen Propaganda gehören bis heute zu den soziologischen Standartwerken zur Massenpropaganda. Nach der Machtergreifung folgt erneutes Exil, später die Internierung im besetzten Frankreich. Nach Kriegsende engagiert er sich in Dänemark und Italien als Pazifist gegen die Atombombe, bis er nach Stalins Tod in die UdSSR zurückkehrt, wo er bis zu seinem Tode lebt.

Auszüge aus seiner nicht veröffentlichen Autobiographie, im Film gelesen von Ulrich Matthes, Bild und Tondokumente vervollständigen die biographischen Eckdaten des Universalgenies. Auch wenn es bis zum Schluss zu keiner Begegnung zwischen den unterschiedlichen Brüdern kommt, setzt der Film die entzweiten Männer durch einen fiktiven, animierten Dialograum in Bezug zu einander. Den großen Leistungen ihres Vaters in Wissenschaft und Politik stehen die persönlichen Dramen seiner Söhne entgegen, die sich bis heute an der umstrittenen Vaterfigur abarbeiten.

"Als ich mit meiner Spurensuche begann, hatte ich keine Vorstellung davon, was sie auslösen würde, wie heftig Erinnerungen auch nach Jahrzehnten sein können und welche starken Gefühle dabei freigesetzt werden", erklärt Boris Hars-Tschachotin in seinem Kommentar zum Film "Geborgenheit und Zuneigung stehen direkt neben Enttäuschung und Zorn, Stolz und Liebe neben Verlassensein, Hass und Distanz. Und alles zusammen ergibt ein Geflecht, eine Familie, ein Jahrhundert." Dieses Geflecht in seinem Dokumentarfilm stimmig und spannend aufgearbeitet zu haben, ist dem Regisseur meisterlich gelungen.

Norbert Raffelsiefen

Sergej Stepanowitsch Tschachotin (1883-1973). Unbekannt? Dann ist es Zeit, ihn kennenzulernen. Es lohnt sich.

Er war ein renommierter russischer Biologe, ein Pionier der Zellforschung, ein Assistent des Physiologen und Nobelpreisträgers I.P. Pawlow, 1917 einer der führenden Revolutionäre, ein ruheloser Kosmopolit, ein wichtiger wissenschaftlicher Autor, ein politischer Agitator, ein SPD-Kämpfer gegen Hitler, ein Gegner der Atombombe, ein Verteidiger des Friedens.

Nicht weniger als fünfmal war er verheiratet - also auch ein Frauenheld. Acht Söhne sind aus diesen Ehen hervorgegangen, vier von ihnen konnte Tschachotins Urenkel Boris Hars-Tschachotin für den von ihm verantworteten Dokumentarfilm noch befragen. Aus vielen Gesprächen, unzähligen Fotos, Dokumenten und sonstigem Archivmaterial, Zitaten seines Urgroßvaters, bohrenden Fragen und inszenatorischem Geschick wurde ein hoch interessantes persönliches Bild dieses Menschen und zugleich ein politisch-historisches Kaleidoskop über das Jahrhundert, in dem lebte und arbeitete.

Moskau, St. Petersburg, München, Berlin, Messina, Zagreb, Paris, Heidelberg, Rom und wieder Moskau heißen die Stationen des Lebens von Tschachotin. Die Vielzahl ist charakteristisch für sein Wesen.

So unterschiedlich die Mütter der Söhne Petja, Andrej, Wenja und Eugen waren, so unterschiedlich sind deren keineswegs harmonisches Verhältnis zueinander, ihre beruflichen und privaten Lebensweisen, ihre Meinung und Beziehung zum Vater. Letztere reichen von der Bewunderung bis zur tiefsten Ablehnung, von der Liebe bis zur Verweigerung. Größte Emotionen und entschiedene Aussagen kommen so in dem Film zum Ausdruck.

Ein Kuriosum: Tschachotin hatte testamentarisch verfügt, dass seine Asche auf Korsika beizusetzen sei. Die Brüder konnten sich darüber jedoch nicht verständigen. Ergebnis: Die Urne stand Jahrzehnte lang bei Eugen auf einem Schrank. Dieser Umstand scheint glücklicherweise eine der Spuren gewesen zu sein, die letztlich zu diesem Film geführt haben. Eine letzte kleine Abschiedszeremonie wurde dann doch noch gefunden.

Das packende Bild eines Menschen, einer Familie und einer Epoche.

Thomas Engel