Shahid

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Eine Komödie, ein Musical, ein schräges Doku-Drama, ein politisches Bekenntnis … „Shahid“ ist alles davon und doch wieder etwas ganz anderes. Narges Kalhor zeigt mit ihrem sehr unterhaltsamen, facettenreichen Kinodebüt, dass Fantasie, Kreativität und Mut wichtiger sein können als ein großes Budget: Mit überbordender Dynamik erzählt sie von sich selbst und von ihrem Schicksal. Sie kam als Asylbewerberin aus dem Iran, hat inzwischen die deutsche Staatsangehörigkeit, aber in sich trägt sie die Geschichte ihrer Familie und ihres Landes. Eine Heimatlose, die ihre Heimat liebt, aber ihren Namen ändern möchte. Doch das ist gar nicht so einfach angesichts der deutschen Bürokratie.

Regie: Narges Kalhor
Drehbuch: Narges Kalhor; Aydin Alinejad
Deutschland 2024
Darsteller: Baharak Abdolifard, Nima Nazarinia, Narges Kalhor, Saleh Rozati, Thomas Sprekelsen, Carine Huber
Kamera: Felix Pflieger
Musik: Marja Burchard

Länge: 84 Minuten
Verleih: Schmidbauer-Film
Start: 1. August 2024

FILMKRITIK:

Eine zusammengekrümmte nackte Frau liegt in einem dunklen Raum am Boden, um sie herum schwarzgekleidete Männer, die sie in einem merkwürdigen Tanz umkreisen. Eine gruselige Szene, doch die Frau steht irgendwann ganz selbstverständlich auf, macht sich bereit und verlässt das Haus. Die Männer verfolgen sie und tanzen weiter. Offenbar sind sie mit ihrer nunmehr etwas albern wirkenden Choreographie für die Außenwelt unsichtbar. Doch was ist Traum, was ist Wirklichkeit? Sind die Männer so etwas Ähnliches wie Dämonen?

Was wie ein Horrorfilm beginnt, entwickelt sich schnell zu einer Komödie, die auch ein Musical sein könnte oder ein dokumentarisch angehauchter Porträtfilm. Narges Kalhor hat aus ihrer Biografie einen extrem vielschichtigen, irrsinnig unterhaltsamen Film gemacht – und „irrsinnig“ ist hier absolut ernst gemeint, denn es steckt tatsächlich eine ordentliche Menge Wahnsinn in diesem Werk, das sich eigentlich jeder Genre-Definition verwehrt.

Die Frau vom Anfang – das ist die Regisseurin und Autorin selbst, gespielt von der Schauspielerin Baharak Abdolifard. Sie hat es nicht leicht, denn sie muss sich ständig vor ihrer Regisseurin rechtfertigen, die sich sehr gerne einmischt. – Dass hier zwischendurch aus der Handlung ausgestiegen wird, gehört zu den charmanten kleinen Nebengeschichten. Da wird vollkommen hemmungslos und durchaus selbstreferentiell nebenbei das Making of dieses Films erzählt, der damit gleichzeitig immer wieder auch in Frage gestellt wird. Und dann verbündet sich auch noch die Hauptdarstellerin mit dem Schauspieler, der den Uropa und Anführer der tanzenden schwarzen Dämonen darstellt. Und für diese Sch…rolle hat sie tatsächlich einen anderen Auftrag abgesagt! Da gibt es aber auch eine Art Geschichtslehrer mit Wuschelkopf in einem flotten knielangen Overall, der mit Hilfe von großen Wimmelbildern hundert Jahre Iran- und Familien-Geschichte erzählt und dabei auch die Schrecken nicht ausspart.

Prinzipiell steht zunächst die Änderung ihres Familiennamens im Raum – Narges Shahid Kalhor. Narges möchte den Namen „Shahid“ loswerden, der so etwas wie Märtyrer des Glaubens bedeutet. Sie verdankt diesen Namen ihrem Urgroßvater, der Anfang des 20. Jahrhunderts als Rebell erschossen wurde, als er gerade im Gebet versunken war. Durch den Beinamen „Shahid“ wurde er sozusagen posthum geehrt, doch Narges will damit nichts zu tun haben. Mit Märtyrern hat sie nichts am Hut und als Systemkritikerin des Iran, die sich in ihrem Heimatland nicht mehr blicken lassen kann, schon überhaupt reineweg gar nicht. Mit der standesamtlichen Streichung ihres Namens hofft sie, die Dämonen loszuwerden, die sie verfolgen und die von ihrem Urgroßvater angeführt werden. Dafür muss sie sich mit der deutschen Bürokratie herumärgern, die von ihr immer mehr Unterlagen und Dokumente einfordert. Doch irgendwann merkt Narges, dass ihre Probleme vielleicht gar nichts mit ihrem Namen und mit dem Urgroßvater zu tun haben … Welche Rolle hat  eigentlich damals ihre Urgroßmutter gespielt?

Mit Selbstironie, Intelligenz und viel Humor, der manchmal etwas Verzweifeltes hat, verpackt Narges Kalhor ihre Story in eine hybride Form, in der sich poetische Reflexionen abwechseln mit absurden Szenen von einer manchmal bestechend unpathetischen Theatralik. Vorrangig geht es um eine Namensänderung, aber eigentlich geht es um die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, um die Gegenwart zu ertragen und einigermaßen beruhigt in die Zukunft zu blicken. Und das betrifft nicht nur Narges, sondern uns alle.

 

Gaby Sikorski