Sister

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Die Leute "da oben" kaufen schicke Markenjacken, das Kind "da unten" braucht Geld für Nudeln und Klopapier. Unter dem Skisportressort herrscht blanke Existenznot. Berg und Tal stehen für Wohlstand und Prekariat. Vor dieser sinnbildlichen Kulisse betrachtet die Schweizer Regisseurin Ursula Meier das Nähebedürfnis eines vernachlässigten kleinen Diebes erstaunlich genau und nah. Für ihr berührendes, leises Kinderdrama erhielt sie den "Sonderpreis Silberner Bär" auf der letzten Berlinale und im August den Filmpreis des bayrischen "Fünf-Seen-Festivals".

Webseite: www.arsenalfilm.de

F/CH 2012
Originaltitel: L'Enfant d'en Haut
Regie: Ursula Meier
Kamera: Agnès Godard
Darsdteller: Léa Seydoux, Kacey Mottet Klein, Gillian Anderson, Martin Compston, Jean-Francois Stévenin
Länge: 97 Min.
Verleih: Arsenal
Start: 8. November

PRESSESTIMMEN:

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FILMKRITIK:

Oben auf der Skistation stehen lauter teure Sachen herum. Die Urlauber bewegen sich so, als seien sie zuhause. Nur einer durchbricht die Etikette. Der 12-jährige Simon (Kacey Mottet Klein) klaut, was das Zeug hält. Mit Helm, Gesichtsschutz und Skibrille vermummt wie ein kleiner Sternenkrieger, durchsucht er schnell und konzentriert die verwaisten Luxusartikel und bringt seine Auswahl mit Gondel und Schlitten in das industriell zersiedelte Tal, in die Hochhauswohnung, die er mit seiner älteren Schwester teilt. Hier verkauft er die Sachen an seine Nachbarn oder bietet sie Autofahrern an. Keiner fragt nach.

Simons stringent organisiertes Vorgehen trägt auch komische Züge. Zwischendurch setzt er sich mit einem Drink auf die Sonnenterrasse und parliert wie ein zu Geld gekommener Bonsai-Mafiosi "über die Magie des Pulverschnees". Dann versucht er eine elegante englische Mutter (Gillian Andersen aus "Die Akte X") mit Höflichkeiten und Prahlereien für sich zu gewinnen. Wo denn seine Eltern seien, fragt sie. Die wären mit ihrem "großen Hotel" sehr beschäftigt, antwortet er.

Tatsächlich muss er sich und seine große Schwester Louise (Léa Seydoux in ungewohnt schlampiger Rolle) selber versorgen. Sie ist achtlos, ordinär, dauerfrustriert und lässt einfache Putzjobs ebenso wie neue Beziehungen sausen. Beide sind offenbar verwaist. Für Louise ist Simon gleichzeitig Ernährer und Erzieher, er weist sie streng ein, wie man die gestohlenen Skier glättet, um sie teuer zu verkaufen. Er fragt, mit wem sie ausgeht. Aber sie gibt trotzig keine Antworten und lässt ihn allein. Trotzdem will er ihr gefallen, sie sogar für ihre Nähe bezahlen. Sein Sehnen nach Zuwendung und Einbindung ist mit Händen greifbar, aber er sagt nichts. "Die Familie ist beschissen" finden beide.

Einmal kommt die Moral ins Spiel. Ein Koch aus einem der Bergrestaurants ertappt den Jungen beim Stehlen, will ihn erst erziehen, nutzt dann aber dessen Dealer-Talent für sich selbst. Statt zu einem väterlichen Freund wird er zum Komplizen. Die Erwachsenen pendeln zwischen Fürsorgeansätzen, Überforderung, Desinteresse und Egoismus. Das Zusehen kann weh tun. Nach gut der Hälfte des Films kommt es zu einer unerwarteten Wendung, die Simons Schicksal noch berührender macht.

In der Schneeschmelze hat Simon die abgefahrenen Hügel, das grandiose Panorama und alle Gondeln ganz für sich und ist mutterseelenallein. Die Drahtseilbahn veranschaulicht das groteske Gefälle zwischen Amüsement und hart ignorierter Armut. Die Gegend, gefilmt wurde in den südwestlichen Schweizer Alpen, spiegelt Simons strukturlose Familie. Mal ist sie von Sportlern bevölkert, dann verwaist und nutzlos. Bräunliche Töne und Schatten bestimmen die Bilder. Wenn die Sonne einmal scheint, dann wirkt sie kalt. So gewaltsam trostlos kann die Bergwelt sein, fast so beängstigend wie in "Shining".

Ursula Meier zeigte bereits in "Home" (mit Isabelle Huppert) eine isolierte disfunktionale Familie. Ihre intensive Beobachtung des Jungen erinnert an die Filme des Iraners Bahman Ghobadi, in denen auch Kinder ernst und einsam ihren Lebensalltag bewältigen müssen. Die Kamera von Agnès Godard geht aber noch näher dran. Kacey Mottet Klein spielt umwerfend: anrührend, abstossend kalt, kindlich und resigniert. Am Ende funkt doch ein bisschen Hoffnung auf. Zwei gondeln fahren aneinander vorbei, die Insassen schauen sich sehnsüchtig hinterher. Dann setzt die Musik von John Parish, der häufig mit PJ Harvey zusammenarbeitete, ein, visionär und kraftvoll.

Dorothee Tackmann

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